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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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selbst von noch einer anderen Erzählung umrahmt: Sindbad der Seefahrer ist eines der Märchen aus Tausendundeine Nacht , einem Buch voller Geschichten, die die junge Scheherazade einem König erzählt. Scheherazade muss den König jede Nacht mit einer Geschichte unterhalten, damit er sie nicht tötet. Und zu diesen Geschichten gehört eben die vom Lastträger und von Sindbad.
    Die drei Geschichten aus verschiedenen Ebenen weisen einigeGemeinsamkeiten auf. Alle werden erzählt, um ein bestimmtes Publikum zu unterhalten – Tausendundeine Nacht soll die Leser unterhalten, Scheherazade unterhält den König, und Sindbad unterhält seine Gäste. Die Geschichten weisen auch alle ein befriedigendes Ende auf. Tausendundeine Nacht endet damit, dass der König Scheherazade heiratet, Sindbads Geschichte endet damit, dass der Lastträger merkt, dass Sindbad seinen Reichtum einst selbst erworben hat, und das Märchen von Sindbad endet mit seiner Heimkehr nach Bagdad. Die verschiedenen Geschichten weisen eine gemeinsame Form auf und umrahmen einander zugleich.
    In einem ähnlichen Verhältnis zueinander stehen auch die Prozesse Evolution, biologische Entwicklung und Lernen. Ihre formale Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie sich alle auf die Formel des Lebens gründen. Wie sie einander umrahmen, hängt mit ihrem historischen Ursprung zusammen. Die Evolution umrahmt die biologische Entwicklung, weil deren Prozess erst durch die Evolution in Gang kam. Und sowohl Evolution als auch biologische Entwicklung bilden den Rahmen für das Lernen, weil erst über die früheren Wandlungsprozesse Lernen möglich wurde. Den Bezug zwischen Evolution und biologischer Entwicklung haben wir bereits besprochen (Kapitel 5). In diesem Kapitel nun möchte ich untersuchen, wie Evolution und biologische Entwicklung das Lernen umrahmen.
DIE ENTWICKLUNG DES LERNENS
    Das Lernen beginnt nicht aus dem Nichts, sondern setzt immer einen bestimmten neuronalen Kontext voraus. Das in Kapitel 7 beschriebene TD-Learning zum Beispiel erfordert bestimmte Verbindungen zwischen Neuronen, mit denen Belohnungen, Diskrepanzen, Erwartungen und sensorische Inputs wahrgenommen werden können. Genauso ist die Kalibrierung oder die Fähigkeit, bestimmte Interpretationen vorzunehmen, nur bei vorheriger Existenz neuronaler Anordnungen möglich. Diese bereits bestehenden Verbindungen und Bezüge verweisen zurück auf den Prozess der biologischen Entwicklung. Weil Tiere sich als Embryo entwickeln, werden sie mit bereits stark strukturierten Gehirnen, Körpern und Sinnesorganen geboren, ohne die Lernen unmöglich wäre.
    Dabei ist der Übergang von der biologischen Entwicklung zum Lernen keineswegs scharf markiert. Anders als bei der Geschichte von Sindbad, die mit einem bestimmten Satz beginnt, ist der Sprung von der biologischen Entwicklung zum Lernen viel verschwommener. Neuronen beginnen nicht erst mit der Geburt zu feuern, sondern tun das bereits während der embryonalen Entwicklung. Die biologische Entwicklung endet auch nicht mit der Geburt, sondern geht weiter, wenn das Neugeborene wächst und heranreift. Gut illustrieren lässt sich das raffinierte Wechselspiel zwischen biologischer Entwicklung und Lernen mit ein paar Untersuchungen zum Sehen.
    Im vorigen Kapitel sind wir bereits einer Region der Großhirnrinde begegnet, die an der visuellen Wahrnehmung mitwirkt: dem primären visuellen Cortex oder V1. Lassen wir vor einem Affen oder einer Katze unter Anästhesie einen Lichtpunkt auf einer Leinwand aufscheinen, so weist eine kleine Region von V1 starke elektrische Aktivität auf. Verschieben wir das Licht im Gesichtsfeld von einer Stelle zur anderen und stimulieren damit andere Stellen der Netzhaut, so verschiebt sich die Region elektrischer Aktivität in V1 ebenfalls. Das ist, als wäre eine Landkarte in V1 mit einer entsprechenden Landkarte auf der Netzhaut verbunden. Die Region V1 des Gehirns ist als retinotope Karte aufgebaut.
    Tiere haben normalerweise zwei Augen, auf V1 müsste es also zwei retinotope Karten geben: eine für jedes Auge. Wie werden nun diese Karten miteinander integriert? In den 1960er Jahren gingen David Hubel und Torsten Wiesel von der Harvard Medical School in Boston dieser Frage nach, indem sie detaillierte Aufnahmen des visuellen Cortex von Katzen und Affen erstellten. 115 Wie bei uns überschneiden sich bei diesen Tieren die Gesichtsfelder von linkem und rechtem Auge. Folgendes stellten Hubel und Wiesel dabei fest: Wird auf einer Stelle einer

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