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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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Neurone. Für eine gegebene Region des Gesichtsfelds feuern benachbarte Inputs ausdemselben Auge tendenziell mit stärkerer Korrelation als die aus verschiedenen Augen. Die beiden Augen sehen ja die Gegenstände aus einem leicht unterschiedlichen Winkel, es bestehen also kleine Diskrepanzen zwischen dem, was beide Augen sehen. Computersimulationen beweisen nun Folgendes: Wenn stärkere Korrelation beim Feuerungsmuster zur Verstärkung von Synapsen führt und zugleich benachbarte Zellen einander hemmen, dann lässt sich dadurch das wechselnde Verbindungsmuster zum linken und rechten Auge begründen. Wird ein Auge chirurgisch verschlossen, so werden nur die Verbindungen aus dem aktiven Auge verstärkt, die inaktiven dagegen werden geschwächt und vernichtet. Daraus ergibt sich die beobachtete Ausdehnung der Okulardominanzstreifen für das aktive und ihr Schwund für das andere Auge.
    Dennoch beruht das Streifenmuster nicht ausschließlich auf der visuellen Erfahrung. Wie zuvor erwähnt, bildet sich, wenn beide Augen nach der Geburt verschlossen werden, auf dem visuellen Cortex trotzdem ein Okulardominanzmuster, das allerdings nach etwa vier Wochen zu degenerieren beginnt. Diese angeborene Neigung, ein Streifenmuster zu bilden, gehört zum biologischen Entwicklungsprozess und beruht vermutlich auf spontaner neuronaler Aktivität in bestimmten Hirnregionen. Es besteht also keine scharfe Grenze zwischen biologischer Entwicklung und neuronalen Veränderungen auf Grund von Sinneserfahrungen; beide stehen in engem Wechselspiel. Die biologische Entwicklung führt zu bestimmten Mustern im neuronalen Aufbau, und Erfahrungen verändern diese Muster und bauen darauf auf, so dass die Bezüge zwischen den Neuronen genauer auf die tatsächlichen Erfahrungen eines Tiers ausgerichtet werden.
    Ein solchermaßen unscharfer Übergang zwischen biologischer Entwicklung und Lernen ist möglich, weil beiden Prozessen viele molekulare und zelluläre Mechanismen gemeinsam sind. Wie wir in Kapitel 6 gesehen haben, beruhen kurz- und langfristige Veränderungen der Synapsenstärke auf molekularer Signalübertragung, dem Wachstum oder Absterben von Synapsen und dem An- oder Abschalten bestimmter Gene. Die molekularen Komponenten des Lernens unterscheiden sich überhaupt nicht von denen der biologischen Entwicklung. Beim Lernen werden sie nur in einer bestimmten Weise kombiniert, so dass Wechselwirkungen mit der Umwelt erfasst werden können und über Veränderungen der Nervenbahnen daraufaufgebaut werden kann. Über diesen Prozess werden neuronale Reisen, die bereits im Mutterleib begonnen haben, in andere Richtungen weitergeführt, je nach den jeweiligen Handlungen und Erfahrungen.
    Neuronale Reisen werden freilich nicht nur von der biologischen Entwicklung umrahmt; einen weiteren Rahmen bildet die noch umfassendere Geschichte der Evolution. Um diese nächste Rahmenebene verstehen zu können, müssen wir zunächst einmal untersuchen, warum wir überhaupt lernen.
GRUNDINSTINKTE
    Das Leben des Heiligen Hieronymus, eines Mönchs aus dem 5. Jahrhundert, war häufig ein Motiv für religiöse Gemälde. Episoden aus Hieronymus’ Leben wurden von Künstlern wie Dürer, Bosch, Leonardo da Vinci, Caravaggio und Rubens dargestellt. Das vielleicht beliebteste Porträt ist Vittore Carpaccios Gemälde von Hieronymus mit dem Löwen (Abb. 79). Nach der Legende hinkte eines Abends ein Löwe in Hieronymus’ Kloster, was alle Mönche in die Flucht trieb. Nur Hieronymus blieb stehen, denn er sah, dass dem Löwen ein Dorn in der Tatze steckte. Hieronymus zog den schmerzenden Dorn heraus, und der dankbare Löwe wurde sein treuer Gefährte, der später half, Hieronymus’ Esel zu beschützen.
    (79)  Der Hl. Hieronymus führt den Löwen zum Kloster . Vittore Carpaccio, 1502.
    Die Legende des Heiligen Hieronymus handelt vom Umgang mit den Instinkten. Von Natur aus neigen wir dazu, vor einem Löwen zu fliehen, doch Hieronymus widersetzt sich diesem Instinkt, bleibt standhaft und hilft dem Tier. Vom Löwen aus betrachtet, wäre es ein natürlicher Instinkt, Menschen anzugreifen. Dieser Löwe aber lernt seine Aggressivität zu zügeln und wird zu Hieronymus’ Gefährten. Wir empfinden Instinkte ganz häufig so: als etwas Negatives, das es am besten zu bändigen gilt. Dabei liegen Instinkte im weiteren Sinne am Ursprung all unserer Handlungen, auch unserer edelsten Taten. Das gilt selbst dann noch, wenn wir meinen, wir hätten unsere Instinkte gezügelt; denn selbst

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