Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
Vom Netzwerk:
Werte.
    Trotzdem beruhen all diese Veränderungen ursprünglich auf einigen Anfangswerten, die durch natürliche Selektion herausgebildet wurden, und genau das ist die evolutionäre Begründung für unsere Fähigkeit zu lernen. Die Überlebenschancen und die Reproduktionsraten werden durch Lernen gesteigert, so dass sie mit instinktiven Werten zusammenfallen, etwa dem Wunsch nach Nahrung, wenn wir hungrig sind, und der Ablehnung von Schmerz. Würde ein Tier mit entgegengesetzten Werten geboren, würde also Schmerz anstreben und Nahrung meiden, wenn es hungrig ist, so wäre Lernen für dieses Tier von Nachteil. Das Tier würde lernen, wie es Nahrung vermeidet und sich selbst wirksamer dem Schmerz aussetzt, und damit würde es schnell verhungern oder verbluten. Tiere mit solchem Verhalten würden von der natürlichen Selektion aussortiert. Die Werte, mit denen wir geboren werden, wurden durch die natürliche Selektion erstellt und bilden die Grundlage für das Lernen.
F LEXIBILITÄT KONTRA DIREKTHEIT
    Wir wissen jetzt, welchen Vorteil das Lernen aus evolutionärer Sicht haben kann. Allerdings hat es auch seine Kehrseiten. Erstens ist das Lernen nur indirekt an den Reproduktionserfolg gekoppelt. Das heißt, man kann durchaus Verhaltensweisen zeigen, die die Reproduktionsrate nicht steigern, etwa wenn wir beschließen, keine Kinder zu bekommen, weil es zu teuer wäre. Zweitens ist Lernen sehr viel komplizierter als instinktives Reagieren, es erfordert also komplexere Nervenbahnen und Wechselwirkungen. Warum also hat sich das Lernen herausgebildet, obwohl doch die direkteren und einfacheren instinktiven Reaktionen bereits existierten?
    In dieser Frage kommt es zu einer Kosten-Nutzen-Rechnung zwischen Flexibilität und Direktheit. Ein Nachteil der Evolution durch natürliche Selektion besteht darin, dass sie nur über Generationen hinweg persistente Tendenzen berücksichtigen kann. Viele Umweltfaktoren aber verändern sich in sehr viel kürzeren Zeiträumen, und obendrein häufig kaum vorhersagbar. Wären unsere Handlungen sämtlich angeboren und würden Umweltveränderungen nicht berücksichtigen, so würde es zu Anpassungsverhalten häufig gar nicht kommen können. Stellen wir uns etwa vor, eine Venusfliegenfalle müsste ohne Informationen aus der Umwelt vorhersagen, wann sie ihr Blatt über einem Insekt zuklappen soll. Dazu bräuchte sie ein komplexes Modell der Welt, das ihr genau sagen würde, wann ein Insekt auf ihr landet – so eine Vorhersage wäre schier unmöglich. Statt also alle Handlungen vorzuschreiben, die den Reproduktionserfolg steigern können, hat die natürliche Selektion indirektere Ansätze bevorzugt.
    Im ersten Schritt hin zu solcher Indirektheit werden instinktive Reaktionen genutzt, da diese aus evolutionärer Perspektive weniger direkt sind, als wenn alle Handlungen von Geburt an eingerichtet wären. Die Venusfliegenfalle passt ihre Handlungen der Umwelt an: Ihre Blätter werden genau dann zum Schließen stimuliert, wenn sie Bewegungen von Insekten wahrnehmen. Solche instinktiven Reaktionen sind eine Grundmöglichkeit, Direktheit gegen Flexibilität einzutauschen. Sind uns Reaktionen angeboren und nicht Handlungen, so können wir unter sich verändernden Bedingungen flexibler handeln. Diese Strategie liegt einer ganzen Reihe von Handlungen zuGrunde, etwa der Produktion von Laktose-verdauenden Enzymen bei Escherichia coli , wenn sie in die Nähe von Milch gerät, oder dass sie auf zuckerreiche Regionen zuschwimmt. Die einzelnen Handlungen werden nicht im Voraus direkt spezifiziert, sondern hängen davon ab, was der Bakterie in ihrer Umwelt konkret begegnet.
    Allerdings haben auch instinktive Reaktionen ihre Grenzen. Besonders deutlich wird das, wenn wir uns in der makroskopischen Welt bewegen. Ein neugeborenes vielzelliges Tier bekommt es mit allen möglichen komplexen Ereignissen zu tun, einfach nur, weil es sich selbst bewegt. Dreht es den Kopf, so verändern sich nach einem komplizierten Muster seine visuellen Inputs, je nachdem, was gerade in der Umgebung ist. Wenn es zu gehen lernt, trifft es unterwegs auf viele Hindernisse, von denen es die einen am besten vermeidet, andere dagegen zu seinem Vorteil nutzt. Für die Suche nach Nahrung muss es wissen, wo diese am besten zu finden ist und wie es in seiner komplexen Umwelt am besten den Zugang dazu erlangt. Jedes Individuum macht dabei seine ganz eigenen Erfahrungen, entsprechend seinen besonderen Voraussetzungen und Bewegungen. Dieser ganzen

Weitere Kostenlose Bücher