Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
Bisher sind wir neun Regulatorproteinen begegnet, die wir mit Äpfeln, Birnen, Bananen und so weiter dargestellt haben. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Jedes pflanzliche oder tierische Genom codiert für Hunderte oder gar Tausende Regulatorproteine. Das menschliche Genom zum Beispiel enthält rund 25000 Gene. Davon codieren vermutlich etwa 2500 für Regulatorproteine, die andere Gene an- und ausschalten können. Das menschliche Genom codiert also für etwa 2500 verschiedene Obstsorten.
Um zu verstehen, wohin das führen kann, nehmen wir an, ein Genom codiert für 1000 verschiedene Regulatorproteine. Eine Zelle beziehungsweise ein Zellkern mit dem umgebenden Zytoplasma produziert zu einem gegebenen Zeitpunkt nur einen Bruchteil dieser Proteine, sagen wir 10 Prozent. Das heißt, jede Zelle produziert 100 von 1000 möglichen Regulatorproteinen, eine Auswahl von 100 Früchten aus 1000 möglichen. Eine andere Zelle besitzt vielleicht eine andere Auswahl von Regulatorproteinen, eine andere Kombination von 100 Früchten. Wie viele Zelltypen mit unterschiedlicher Produktion von Regulatorproteinen können wir mit diesem System theoretisch definieren? Etwa 10 300 , also eine Eins mit 300 Nullen – eine gigantisch hohe Zahl. Wir bewegen uns hier in einem riesigen Hyperraum mit 100 Dimensionen (der Fruchtauswahl), von denen jede unter 1000 Möglichkeiten auswählen kann. Das Prinzip deskombinatorischen Reichtums, diesmal angewandt auf Regulatorproteine.
Der kombinatorische Reichtum ist hier aber noch nicht zu Ende. Wenn nämlich viele unterschiedliche Zelltypen nebeneinander liegen, eröffnen sich daraus noch viel mehr Möglichkeiten. Wir können Zellen unterschiedlich anordnen, so wie wir die verschiedenen Figuren auf dem Schachbrett unterschiedlich anordnen können. Anders als beim Schach aber, wo es nur zwölf verschiedene Steintypen gibt (sechs schwarze und sechs weiße), können wir mit 10 300 Möglichkeiten spielen. Und an Stelle der 64 Felder auf dem Spielbrett haben wir viele Milliarden Zellen. Die Zahl der möglichen Kombinationen ist also nicht einmal annähernd vorstellbar und ergibt einen Hyper-Hyperraum möglicher Zelltypen und -anordnungen. Diesen gewaltigen Raum der Möglichkeiten nenne ich den Entwicklungsraum .
Obwohl der Entwicklungsraum unvorstellbar groß ist, können wir sein Funktionieren nachvollziehen, wenn wir uns einen sehr ausgedehnten dreidimensionalen Raum vorstellen. So, wie wir die Evolution als Population darstellen konnten, die durch einen ausgedehnten genetischen Raum wandert (Kapitel 2), können wir uns für die biologische Entwicklung vorstellen, dass ein Embryo durch einen riesigen Entwicklungsraum wandert. Bei der Befruchtung besteht der Embryo aus einer einzelnen Zelle mit einer bestimmten Kombination von Regulatorproteinen, die eine Stelle im Entwicklungsraum besetzt. Wenn der Zellkern und die Zellen sich teilen, werden nun in verschiedenen Regionen des Embryos bestimmte Gruppen von Regulatorproteinen aktiviert; unser Embryo beschreitet einen bestimmten Weg durch den Entwicklungsraum. Das Beispiel des Taufliegenembryos, der die Folge von Fruchtmustern durchschreitet, stellt den Anfang einer solchen Wanderung dar. Der Fliegenembryo sucht sich einen schmalen Weg durch einen gewaltigen Raum der Möglichkeiten für Regulatoren, so wie Cézanne, wenn er ein Bild malt, eine Reise durch einen riesigen Raum der Farbmöglichkeiten unternimmt. Bisher haben wir nur ein paar Schritte auf dieser Wanderung verfolgt, wenige Beispiele dafür, wie ein Muster von Genaktivitäten in ein leicht unterschiedliches Muster überführt werden kann. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wohin diese Wanderung führt, folgen wir der Taufliege noch ein Stückchen weiter.
A UF DEM FUNDAMENT DER VERGANGENHEIT
In Abbildung 26 oben sehen Sie, wie weit wir mit dem Taufliegenembryo bisher gekommen waren – Bananenproteine am Kopfende und Ananas am Schwanzende. In den nächsten Entwicklungsstadien kommt es zu verschiedenen Schritten. Einer besteht darin, dass die Zellkerne des Embryos mit Zellmembranen umhüllt werden und abgeschlossene Zellen bilden. Ein anderer Schritt besteht darin, dass sich ein wiederholtes Muster von Genaktivitäten herausbildet, wie es rechts in Abbildung 26 zu sehen ist. Dort werden mehrere neue Regulatorproteine produziert, die mit Erdbeeren, Mandarinen und Trauben dargestellt werden. Wo bisher ein einfarbiger Streifen war, sagen wir aus Bananen, werden jetzt in einer bestimmten
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