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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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ausgeglichenen Zustand erhalten. Wie andere Anpassungen wurden sie per Darwin’scher Evolution selektiert. Wir haben es hier mit zwei unterschiedlichen Zeitmaßstäben zu tun: Erstens beeinflusst die Umweltvariabilität innerhalb der Lebensspanne eines Individuums seine Reaktionen. Zweitens wurden im Zeitmaßstab der Evolution bestimmte Reaktionstypen per Selektion gestärkt. Über unzählige Generationen hinweg begünstigte die Selektion bestimmte Reaktionen gegenüber anderen, so dass sich nur die, die Überleben und Reproduktion förderten, ausbreiten konnten. Deswegen steuert Escherichia coli ihre Gene, wenn sie mit Laktose in Kontakt kommt, und deswegen schwimmt Chlamydomonas aufs Lichtzu – beides Reaktionen, die Individuen früherer Generationen im Umgang mit der Variabilität ihrer Umwelt geholfen haben. Es handelt sich hier um instinktive Reaktionen.
    Instinktive Reaktionen werden allerdings nicht zwangsläufig fixiert; mit der Zeit können sie sich immer weiter anpassen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Schwimmverhalten der Bakterie Escherichia coli . 51 Wie Chlamydomonas kann Escherichia coli mittels Geißeln schwimmen, allerdings kreisen die Geißeln in diesem Fall eher wie Propeller und rudern nicht wie Arme. Die Bakterie schwimmt instinktiv auf Regionen zu, die reich an Nährstoffen (etwa Zucker) sind, und entfernt sich von schädlichen Komponenten wie Säuren. Gesteuert wird das über Rezeptormoleküle auf ihrer Membran, die ständig die Konzentration chemischer Stoffe in der Umgebung messen. Wie aber sagen diese Rezeptoren der Bakterie, in welche Richtung sie schwimmen soll? Die Strategie kennen wir vom »Topfschlagen«: Die Bakterie passt ihre Bewegungen der Ansage an, ob sie dem Ziel näher kommt (heißer) oder sich davon entfernt (kälter). Zunächst irrt sie in zufälliger Richtung umher. Spürt sie, dass die Bedingungen sich verbessern, weil die Zuckerkonzentration im Umfeld ansteigt, so schwimmt sie weiter in dieselbe Richtung. Spürt sie aber, dass die Bedingungen schlechter werden, so macht die Bakterie kehrt und schwimmt in eine andere Richtung, die wieder hauptsächlich der Zufall vorgibt. Mit einer Folge solcher Bewegungen und Kehren gelangt sie schließlich näher an die Nährstoffquelle.
    Diese Fähigkeit verdankt Escherichia coli einer bemerkenswerten Eigenschaft ihrer Rezeptoren: Deren Sensibilität nämlich schwankt je nach Grad ihrer Stimulierung. Enthält das Umfeld viel Zucker, so nimmt die Zuckerempfindlichkeit der Rezeptoren langsam ab, sie lassen sich also nicht mehr so leicht aktivieren. Das heißt, wenn über längere Zeit hinweg einheitlich gute Bedingungen herrschen, so gewöhnt sich die Bakterie daran und reagiert nicht mehr auf die hohen Zuckerwerte. Stark reagiert die Bakterie nur dann, wenn der Nährstoffgehalt sich verändert. Schwimmt sie gerade auf eine Nahrungsquelle zu, so spürt sie, dass die Bedingungen immer besser werden, und schwimmt weiter; entfernt sie sich gerade von der Nahrungsquelle, so spürt sie, dass die Bedingungen sich verschlechtern, und ändert die Richtung. Die Bakterie reagiert also nicht nur auf die gegenwärtige Situation, sondern vergleicht ihren sensorischenInput noch mit ihren jüngsten Erfahrungen; auf dieser Grundlage stellt sie fest, ob der Nährstoffgehalt sich gerade verbessert oder nicht. Sie erfasst zeitliche Verhältnisse und nutzt sie zur Definition ihres Wegs durch den Raum.
    Die natürliche Selektion hat viele instinktive Reaktionen ausgebildet, die Anpassungen an eine variable Umwelt darstellen. Diese Reaktionen erfassen sowohl räumliche als auch zeitliche Verhältnisse in der Umgebung. Trinke ich ein Glas Milch, so bewegt sich die Milch durch den Raum in meinen Magen hinunter, wo sie das Umfeld der Escherichia coli mit Laktose überflutet. Durch die Drehung der Erde im Raum verändert sich die Richtung, aus der Licht auf einen Teich fällt, und damit auch die Richtung, in die Chlamydomonas schwimmt. Wenn Escherichia coli sich im Raum voranarbeitet, trifft sie vielleicht auf eine reiche Nahrungsquelle und schwimmt darauf zu. Zeit und Raum sind verknüpft, und viele Aspekte dieser Verknüpfung werden durch instinktive Reaktionen erfasst.
    Da instinktive Reaktionen bei heutigen einzelligen Organismen so verbreitet sind, müssen sie sehr früh in der biologischen Evolution entstanden sein, als die lebendige Welt ausschließlich aus Einzellern bestand. Mit dem Aufkommen komplexer vielzelliger Organismen vor etwa einer halben

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