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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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(Abb. 39). Dürer leitet Konstruktion und Harmonie von einer scheinbar zufälligen Ansammlung von Gräsern und Kräutern ab, der wir normalerweise keine besondere Beachtung schenken würden. Indem er ein so banales Motiv wählt, kann er sich der reinsten Kunstfertigkeit überlassen, ohne sich von Konventionen ablenken zu lassen. Auch Wissenschaftler untersuchen häufig banale Gegenstände, wenn sie einem Problem auf den Grund zu gehen versuchen. Die Arbeit an relativ einfachen Systemen vermeidet unnötige Komplikationen und Ablenkungen und erlaubt tiefere Einblicke in das Geschehen. Das gilt besonders dann, wenn wir etwas so Vertracktes zu verstehen versuchen wie unsere eigene Lernfähigkeit. Menschliche Reaktionen sind derart komplex und von unseren Emotionen durchzogen, dass es sehr schwierig sein kann, die eigentlichen Vorgänge objektiv zu interpretieren. Da hilft es manchmal, einen Schritt zurückzutreten und zu untersuchen, wie einfachere Lebewesen, zum Beispiel Bakterien, Gräser oder Schnecken, mit den Herausforderungen umgehen, mit denen sie konfrontiert werden.
    (39)  Das große Rasenstück . Albrecht Dürer, 1503.
    Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, wie Organismen mit räumlichen Herausforderungen umgehen, etwa mit der Unterscheidung von Fels und Meer. Bei ihrer biologischen Entwicklung bilden sie in ihrer Anatomie Eigenheiten aus, mit denen sie die Heterogenität ihrer Umwelt erfassen können. In diesem Kapitel möchte ich zunächst die zeitliche Dimension untersuchen, also die Frage, wie Organismen mit Wandel umgehen. Wäre die Umwelt immer konstant,so müsste ein Organismus sein Verhalten nie den Umständen anpassen. Prozesse wie das Lernen wären dann sehr viel weniger bedeutsam. Um zu den Wurzeln des Lernens vorzudringen, müssen wir zunächst verstehen, wie Organismen grundsätzlich auf Veränderungen in ihrer Umwelt reagieren. Dazu betrachten wir eine Reihe von Reaktionen bei Mikroben, Pflanzen und Tieren; dadurch werden sich allmählich einige gemeinsame wie auch ganz eigene Merkmale herauskristallisieren. Pflanzen besitzen zum Beispiel keine Neurone, können aber trotzdem relativ komplexe Muster von Veränderungen in ihrer Umwelt erfassen. Sobald die grundlegenden biologischen Mechanismen für den Umgang mit Veränderungen geklärt sind, können wir untersuchen, wie diese verschiedenen Mechanismen so kombiniert werden, dass es zum Lernen kommt, der dritten Instanz unserer Formel des Lebens.
ANPASSUNGEN
    Wir leben in einer wandelbaren, sich stetig verändernden Welt. Statt ihr völlig unflexibel gegenüberzustehen, lohnt es sich also für Organismen, sich veränderten Umständen anpassen zu können. Eine solche Reaktion haben wir bereits im vorigen Kapitel kennen gelernt: Die Bakterie Escherichia coli kann ihre Genaktivität dem Laktosegehalt in ihrer Umgebung anpassen. Ihre Regulatorproteine können je nach Laktosemenge Gene an- oder ausschalten. Diese Reaktion ist eine Anpassung: Damit kann die Bakterie Proteine (etwa ein Laktose-verdauendes Enzym) produzieren, die ihr zum Überleben und zur Reproduktion verhelfen. Alle einzelligen Organismen verfügen über solche Regulatormechanismen, über die sie sich auf viele zeitlich variable Faktoren einstellen können – vom Vorkommen bestimmter Moleküle über die Temperatur bis zu den Lichtverhältnissen.
    Gelegentlich erfolgen diese Reaktionen sehr schnell. Die einzellige Grünalge Chlamydomonas , die in stehenden Süßwasserteichen heimisch ist, kann Licht wahrnehmen und sich darauf zubewegen, indem sie mit ihren zwei winzigen Geißeln rudert (Abb. 40). Lichtempfindliche Rezeptorproteine in der Chlamydomonas -Zelle werden, wenn Licht darauf fällt, modifiziert und lösen die Generierung eineselektrischen Signals aus, das die Zelle durchläuft. Das Signal verändert das Muster der Geißelbewegungen, und die Zelle wendet sich dem Licht zu, so wie ein Schwimmer seine Bewegungen anpasst, wenn er einen Bogen machen möchte. Indem Chlamydomonas auf das Licht zuschwimmt, stellt sie sicher, dass sie in hellen Umgebungen bleibt und weiterhin mittels Photosynthese überleben kann.
    (40)  Chlamydomonas -Zelle.
    Sowohl die Reaktion auf Laktose als auch die Schwimmbewegung zum Licht sind Anpassungen, die einen effizienten Umgang mit einer variablen Umwelt ermöglichen. Es handelt sich dabei um so genannte homöostatische oder Selbststeuerungsmechanismen, die den Organismus trotz sich wandelnder äußerer Bedingungen in einem gut genährten und

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