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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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Tageslänge dargestellt, doch das ist nur eine von vielen Reaktionen auf die Umwelt. Pflanzen verknüpfen ihre Reaktionen zudem mit Faktoren wie Temperatur und Nährstoffvorkommen. Schaltet eine Pflanze den Blütentrieb an, so trifft sie eine begründete Entscheidung auf der Grundlage einer ganzen Konstellation unterschiedlicher Umweltfaktoren. Dasselbe gilt auch für andere Reaktionen, etwa den Blattabwurf oder das Auskeimen von Samen.
    Bei diesen Reaktionen kommt es in der Pflanze zu Veränderungen, die Stunden oder Monate andauern können. Der etwas frühere Sonnenaufgang kann die innere Uhr der Pflanze so stellen, dass die Regulatorproteine mindestens bis zum nächsten Sonnenaufgang danach funktionieren. Um die Blütenbildung anzuregen, genügt es vielleicht, wenn die Pflanze der Sonne nur einen oder zwei Tage länger als sonst ausgesetzt ist; ist der Blütenprozess aber einmal ausgelöst, so setzt er sich über viele Wochen hinweg fort, selbst wenn die Pflanzen dann wieder in kürzeren Lichtperioden gehalten werden. Die langen Tage haben dann nämlich zu einem persistenten Wandel der Genaktivität geführt. Das wiederum verursacht eine bleibende Veränderung in der räumlichen Organisation der Pflanze – nämlich die Blütenbildung.
    Eben weil Veränderungen andauern können, sind Pflanzen eher in der Lage, auf zeitliche Ereignisabfolgen zu reagieren als auf einzelne, isolierte Ereignisse. Der Sonnenaufgang stellt die innere Uhr und sorgt damit dafür, dass die Pflanze später am Tag anders auf Licht reagiert. Ein Ereignis am Morgen wirkt fort bis zum Abend, und damit kann eine Reaktion auf der anderen aufbauen; die Pflanze kann daraus schließen, ob Frühling oder Winter ist. Denn Pflanzen reagieren nicht nur auf ihre Umwelt – einige Reaktionen können die Reaktivität der Pflanze selbst modifizieren; dasselbe hatten wir schon bei der schwimmenden Bakterie Escherichia coli festgestellt, die ihre Zuckerempfindlichkeit jeweils dem Zuckergehalt anpasst, den sie in letzter Zeit in ihrer Umgebung gemessen hat.
    Zwar beeindrucken uns instinktive Pflanzenreaktionen wie die Initiierung der Blütenbildung mit ihren ausgefeilten Mechanismen, doch sie kommen uns langsam vor. Es kann Wochen oder Monate dauern, bis ihre Auswirkungen sichtbar werden. Und deswegen schreiben wir sie auch gerne dem Jahreszyklus zu und verstehen sie nicht als hoch entwickelte Reaktionen. Stärker verblüffen uns Reaktionen, die in kürzeren Zeiträumen ablaufen. Schnelle, sichtbare Reaktionen sind in der Pflanzenwelt seltener als bei Tieren, aber wir kennen doch einige aussagekräftige Beispiele.
D ER BISS DER VENUS
    Gerät ein Insekt auf ein Blatt der Venusfliegenfalle (Dionaea muscipula) , so schnappt das Blatt schnell zu (Abb. 43). 54 Das unglückliche Insekt sitzt dann in einem Käfig ineinander greifender »Zähne« an den Blatträndern in der Falle und wird durch Ausscheidungen an der Innenseite der Blätter langsam verdaut, so dass die Pflanze wertvolle Nährstoffe erhält. Schon Charles Darwin faszinierte die Venusfliegenfalle, und er nannte die Pflanze »eine der wunderbarsten in der Welt«. 55 Darwin beobachtete, dass die Schließreaktion des Blattes durch berührungsempfindliche haarfeine Borsten auf der Innenseite ausgelöst wurde, die aktiv werden, wenn sie durch die Bewegungen des Insekts gekrümmt werden. Durch die Aktivierung lösen die Borstenzellen einen elektrischen Impuls aus, den 1873 erstmals Darwins Mitarbeiter John Burdon-Sanderson entdeckte. Dieser Impuls, das so genannte Aktionspotenzial, durchläuft das Blatt und wird von den Zellen wahrgenommen; über einen hydraulischen Mechanismus schnappt dasBlatt dann zu. Die Berührungsreaktion der Venusfliegenfalle verläuft sehr schnell, nämlich in 0,3 Sekunden – aber so schnell muss sie auch sein, um mit den raschen Bewegungen der Beute mitzuhalten.
    (43) Blätter der Venusfliegenfalle: offen (links) und geschlossen (rechts).
    Die Venusfliegenfalle weist nicht nur eine schnelle Reaktion auf, diese Reaktionen können auch unterschiedlich aufeinander aufbauen. Wird eine Auslöserborste durch eine leichte Bewegung nur schwach stimuliert, so generiert sie auch nur eine kleine Reaktion, die nicht ausreicht, um einen elektrischen Impuls durch das Blatt zu senden. Der Reiz liegt dann unterhalb der Schwelle, die für die Generierung eines Aktionspotenzials benötigt wird. Werden aber in schneller Abfolge mehrere schwache Reize abgegeben, so können sie sich summieren, bis

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