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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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das Niveau ausreicht, um einen elektrischen Impuls auszulösen. Jede schwache Reaktion kann also lang genug andauern, um zur nächsten addiert zu werden, so als würde die Borste sich an jedes einzelne Ereignis erinnern. Auch genügt ein einzelner elektrischer Impuls nicht, um den Verschluss des Blattes auszulösen. Dazu muss innerhalb von 35 Sekunden nach dem ersten Impuls ein zweiter eingehen, entweder von derselben oder von einer anderen Borste. Wieder besteht hier eine Art Persistenz, mit deren Hilfe die Information des ersten Impulses präsent bleiben kann, bis der zweite aufkommt und den Effekt des ersten verstärkt. So kann die Pflanze unterscheiden, ob da ein Insekt über das Blatt krabbelt – es dürfte damit in enger Abfolge mehrere Ereignisse auslösen – oder ob es sich um ein einmaliges Ereignis handelt, etwa dass das Blatt von etwas gestreift wurde. Wie bei der Tageslänge beruhen die Reaktionen der Pflanze auf einer zeitlichen Folge von Ereignissen und nicht allein auf einem isolierten Vorfall.
    Die Venusfliegenfalle hat Strukturen entwickelt, mit der sie Verhältnisse in Zeit und Raum erfassen kann. Sie kann aus der Abfolge von Reizen ableiten, dass wahrscheinlich ein Insekt über ein Blatt krabbelt. Die Reaktion ist auch räumlich spezifisch – nur das eine Blatt, das gereizt wurde, schließt sich. Die räumliche Organisation der Pflanze, die vielen Blätter, die sie während ihrer biologischen Entwicklung ausgebildet hat, ermöglicht eine Reaktion je nach der räumlichen Lage. Tatsächlich kann die Pflanze erkennen, wo und wann ein Insekt auftritt.
    Bei der Venusfliegenfalle unterstützen die Reize einander zur Verstärkung einer Reaktion; es gibt aber auch Fälle, bei denen eine wiederholte Stimulierung sich entgegengesetzt auswirkt und eine Reaktion abschwächt. Berührt man die Fiederblättchen der Mimosa   pudica , so klappen sie schnell ein und verschließen das Blatt (Abb. 44); durch die Bewegung bei der Berührung wurde ein elektrisches Signal ausgelöst. Nachdem im Jahr 1960 Tokio von einem Taifun heimgesucht worden war, fiel Hideo Toriyama von der Frauenuniversität Tokio auf, dass die heimischen Mimosa-pudica- Pflanzen nach einer Periode wiederholten Geschütteltwerdens ihre Blätter nicht mehr einklappten, sondern offen ließen 56 – als hätten sich die Blätter an den starken Wind gewöhnt und würden nun die andauernde Stimulierung ignorieren. Toriyama stellte später diesen Effekt unter kontrollierten Bedingungen nach, indem sie Pflanzen vor ein elektrisches Gebläse stellte. Sie wies nach, dass es etwa zehn Stunden dauerte, bis die Gewöhnung sich aufbaute. Hier also dauern Reaktionen an und summieren sich auf, so dass schließlich die Empfindlichkeit insgesamt reduziert wird; genauso hatten wir schon bei der Escherichia coli festgestellt, dass sie sich an hohen Zuckergehalt gewöhnt.
    (44) Blätter der Mimosa pudica vor (links) und nach (rechts) einem Reiz.
    Aus unserem anthropozentrischen Blickwinkel neigen wir zu der Annahme, dass Pflanzen eher passive Organismen sind. Bei genauerem Hinsehen aber stellen wir fest, dass sie alle möglichen aktiven Reaktionen auf ihre Umwelt aufweisen. Ihre Reaktionen erfolgenbinnen Monaten oder Sekundenbruchteilen, aber die Prinzipien sind immer dieselben: Immer reagiert die Pflanze so, dass Überleben und Reproduktion gefördert werden. Zudem werden die Reaktionen über molekulare oder elektrische Signale zwischen vielen Zellen koordiniert, was eine harmonisierte Reaktion ermöglicht. Und sehr häufig verursachen diese Reaktionen Veränderungen in der Pflanze, die persistent bleiben und sich so auf spätere Reaktionen auswirken. Der Sonnenaufgang stellt die innere molekulare Uhr und modifiziert Reaktionen von Pflanzen später am Tag. Und die Reizung einer Venusfliegenfallenborste oder beständiges Rütteln an einem Mimosenblatt kann bewirken, dass die Reaktivität dieser Systeme auf weitere Reize verändert wird. Damit können Pflanzen zeitliche Ereignisfolgen erfassen, etwa den Wechsel der Jahreszeiten, ein Insekt, das über ein Blatt krabbelt, oder die Persistenz eines Sturms.
    Alle diese Reaktionen beruhen darauf, dass Pflanzen in unterschiedlichen Maßstäben räumlich organisiert sind. Zur Steuerung der Blütezeit werden Pflanzenteile wie Blätter, Stängel und Blattspitzen genutzt. Die Reaktion der Venusfliegenfalle setzt berührungsempfindliche Borstenzellen auf jedem Blatt voraus. Wie wir in den vorigen Kapiteln verfolgt haben,

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