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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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nicht durch unsere eigene Augenbewegung verursacht wurde, sondern durch etwas anderes.
    Um den Kreis zu schließen, muss nun das Diskrepanzneuron noch unsere Wahrnehmung dessen beeinflussen, ob das Bild vor uns stabil ist oder nicht. Das illustriert der abwärts weisende graue Pfeil in Abbildung 61, der den Output des Diskrepanzneurons an die Wahrnehmung der Sichtverschiebung bindet. Feuert das Diskrepanzneuron mit seiner Grundrate, so nehmen wir keine Sichtverschiebung wahr – das Bild wird als stabil wahrgenommen. Das ist der Fall, wenn wir unsere Augenbewegungen selbst steuern. Wenn aber die Szene sich durch äußeres Zutun verändert, so feuert das Diskrepanzneuron anders als in der Grundrate, und wir merken dann, dass eine externe Verschiebung stattgefunden hat. Mein Beispiel behandelte eine Augenbewegung nach rechts, aber für Bewegungen nach links, oben oder unten ließen sich analoge Schemata aufstellen. In allen Fällen lernen wir, unsere Handlungen in Abhängigkeit von ihren Auswirkungen zu kalibrieren, und nutzen dann Diskrepanzen für die Schlussfolgerung, dass sich extern etwas ereignet hat.
    Solche Schemata erklären einen eigenartigen visuellen Effekt. Lähmen wir die Augenbewegungen einer Versuchsperson mit einer kleinen Dosis des Gifts Curare, so berichtet der Proband, die Szene vor ihm würde zu hüpfen beginnen, wenn er seine Augen zu bewegen versucht. 83 Weil die Augen gelähmt sind, bewegen sie sich dannnicht; der Proband nimmt aber Veränderungen in der Umgebung wahr. In dieser Situation werden die Augenbewegungsneurone zwar aktiviert, können den gelähmten Augenmuskel aber nicht stimulieren. Die Augenbewegungsneurone feuern also, es gibt aber keine Veränderung im visuellen Input. Daraus ergibt sich ein Ungleichgewicht, das die Feuerungsrate der Diskrepanzneurone von ihrer Grundrate abweichen lässt und uns den Eindruck gibt, die Szene hätte sich verschoben.
    Dies war ein stark vereinfachtes Schema, das gezeigt hat, wie sich unsere vertrauten Prinzipien in Bezug dazu setzen lassen, wie Augenbewegungen in Abhängigkeit von den Veränderungen des visuellen Inputs kalibriert werden, die sie auslösen. Die neuronalen Mechanismen, über die es zu dieser Kalibrierung kommt, sind im Detail noch immer kaum bekannt. Wir wissen, dass bestimmte Regionen des Gehirns in Landkarten organisiert sind, ähnlich den sensorischen und motorischen Karten, wie sie in Kapitel 6 beschrieben wurden. Doch welche Mechanismen die Stärke oder die Anzahl von Synapsen über Erfahrungen so verändern, dass Augenbewegungen an Veränderungen im visuellen Input angepasst werden, ist weniger klar. Aber unabhängig davon, was für Mechanismen dafür identifiziert werden: Es ist jedenfalls wahrscheinlich, dass sie auf Rückkopplungen wie den hier beschriebenen beruhen, bei denen durch Diskrepanzen zwischen Handlungen und ihren erwarteten Auswirkungen synaptische Verbindungen verändert werden.
LERNEN UND HANDELN IN SCHLEIFEN
    Wir stellen uns Handeln gerne als etwas vor, was auf Wahrnehmung und Lernen folgt. Wir nehmen wahr, lernen und handeln dann dementsprechend. Die Augenkalibrierung aber zeigt, dass Wahrnehmung, Lernen und Handeln sehr viel stärker ineinander verwoben sind. 84 Wenn wir eine Handlung ausführen, etwa unsere Augen bewegen, dann kann sich als Ergebnis dieser Handlung unsere Wahrnehmung verändern – das gesehene Bild verschiebt sich über die Netzhaut. Ähnliche Wahrnehmungsveränderungen können auch durch externe Ereignisse ausgelöst werden. Eine der ersten Aufgaben des Gehirns ist es also, herauszufinden, wie es durch eigenesHandeln verursachte Wahrnehmungsveränderungen von solchen unterscheiden kann, die auf externe Vorgänge zurückzuführen sind. Sonst würden wir Ereignisse der Umwelt mit Folgen unseres Handelns verwechseln. Gelöst wird das Problem dadurch, dass wir lernen, unsere Handlungen in Abhängigkeit von ihrer Wirkung zu kalibrieren. Als erstes können wir lernen, was wir von unseren eigenen Handlungen zu erwarten haben. Stellen wir dann Diskrepanzen zu dieser Erwartung fest, so können wir daraus schließen, dass eine Veränderung auf externe Ursachen zurückzuführen ist.
    Wie es das neuronale Schema für Augenbewegungen zeigt, sind die Prinzipien, die an diesem Prozess mitwirken, dieselben wie die, die wir bereits besprochen haben. Miteinander verbundene Rückkopplungsschleifen von Verstärkung und Wettbewerb steuern die Wirkung der Diskrepanzneurone. Diese Schleifen werden angetrieben

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