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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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durch Populationsvariabilität und Persistenz – verschiedene Handlungen und Erfahrungen führen zu dauerhaften Veränderungen an der Stärke oder der Anzahl von Synapsen. Dafür müssen die Inputs in räumliche Nähe gebracht werden, so dass sie kooperativ wirken können. So lernen wir, Wirkungen mit den Aktionen zu assoziieren, die sie verursacht haben, und damit zu unterscheiden, ob Ereignisse durch unser eigenes Handeln verursacht wurden oder durch externe Ereignisse.
    Der Kalibrierungsprozess bringt noch weiteren Nutzen: Er kann bei der Steuerung unserer Handlungen mitwirken. Wie bereits beschrieben, können die Augen einer Versuchsperson, die in einem dunklen Raum sitzt und einen hüpfenden Lichtpunkt verfolgen soll, diesem Lichtpunkt wirklich folgen. Gemäß unserem neuronalen Schema verursacht die anfängliche Bewegung des Ziels eine Sichtverschiebung, die die Feuerungsrate des Diskrepanzneurons verändert (die Augen haben sich noch nicht bewegt). Je weiter das Ziel verschoben wird, desto stärker verändert sich diese Feuerungsrate. Das Diskrepanzneuron informiert uns also darüber, wie weit sich das Ziel wegbewegt hat. Diese Information können wir nun für die Steuerung der Augenbewegung nutzen. Dafür wird der Output der Diskrepanzneurone rückgekoppelt und bewegt unsere Augen. Das funktioniert im Prinzip wie oben, nur dass wir jetzt die Diskrepanzneurone nicht für die Wahrnehmung externer Ereignisse nutzen, sondern ihre Information auch auf die Steuerung unserer Handlungen rückkoppeln.Wird das Ziel während der Sakkaden heimlich rückwärts bewegt, so rekalibriert sich das System automatisch neu und modifiziert entsprechend das Ausmaß der Augenbewegung. Kalibrierung ermöglicht es nicht nur, interne von externen Ereignissen zu unterscheiden; sie hilft uns auch bei der Steuerung unserer Handlungen in Reaktion auf externe Veränderungen.
GESCHMEIDIGE BEWEGUNGEN
    Wir wissen nun, wie sich die Kalibrierung auf ballistische Bewegungen wie Augensprünge anwenden lässt. Viele unserer Handlungen sind aber sehr viel geschmeidiger. Wir stapfen nicht ruckartig umher wie Roboter, sondern verfügen über sehr viel flüssigere Bewegungsmuster. Wie lernen wir, solche geschmeidigen Handlungen zu kontrollieren?
    Moderne Waffensysteme sind sehr viel raffinierter als die zu Leonardos Zeiten. Statt ein Geschoss abzufeuern und zu hoffen, dass es am richtigen Ort landet, setzen wir heute Lenkflugkörper ein, die sich auf ein Ziel ausrichten lassen. Diese Flugkörper sind mit sensorischen Systemen wie einem eingebauten Radar ausgestattet, die Abweichungen zwischen ihrer Flugbahn und der Zielposition messen und ihren Flug dementsprechend anpassen. Solche Kontrollsysteme haben den Vorteil, dass sie sich korrigieren können, wenn sie durch externe Faktoren wie Wind abgelenkt werden, und dass sie flexibel genug sind, um beweglichen Zielen zu folgen. 85 Ähnliche Systeme steuern auch unsere Körperbewegungen. Zur Illustration der beteiligten Prinzipien möchte ich bei unserem visuellen System bleiben. 86
    Betrachten wir einen Gegenstand und drehen langsam den Kopf, so ruhen unsere Augen auf dem Gegenstand. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einerseits können die Neurone in Auge und Gehirn die Geschwindigkeit messen, in der die Bilder sich über die Netzhaut bewegen. Wie die Sichtverschiebungsneurone, die ich oben beschrieben habe, vergleichen diese Sichtgeschwindigkeitsneurone Signale aus verschiedenen Photorezeptoren der Netzhaut, die sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten empfangen. 87 Allerdings setzen sie in kürzeren Zeitabschnitten an – wenn das Auge ruht oder sich langsambewegt, und nicht nur zwischen zwei Augensprüngen. Während der Kopf sich dreht, messen die Sichtgeschwindigkeitsneurone Tempo und Richtung, in der sich das Bild über die Netzhaut bewegt. Diese Information dient dann der Steuerung der Augen. Passt die Geschwindigkeit der Augen zu der zuvor gemessenen Bildgeschwindigkeit, so ist das Bild auf der Netzhaut stabil – wir behalten den Gegenstand im Blick. Besteht aber eine Abweichung, so rutscht das Bild allmählich über die Netzhaut, reizt damit die Sichtgeschwindigkeitsneurone und veranlasst so eine erneute Nachbesserung der Augengeschwindigkeit. Unsere Augen nutzen also beständig ein Rückmeldungssystem, um dem Gegenstand auf der Spur zu bleiben, so wie ein Lenkflugkörper auf sein Ziel gerichtet bleibt. Anders als die Sakkaden ist diese Art von Augenbewegung geschmeidig, und der Blick kann ruhen

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