Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
Vom Netzwerk:
bleiben, während wir nach und nach den Kopf drehen.
    Noch ein weiteres System unterstützt uns dabei, ein Ziel vor Augen zu behalten. Selbst bei geschlossenen Lidern bleiben die Augen tendenziell auf dieselbe externe Position ausgerichtet, wenn wir den Kopf drehen. Sie neigen von Natur aus dazu, sich in entgegengesetzter Richtung zu drehen wie der Kopf und damit die Kopfbewegung auszugleichen. Diese Reaktion beruht auf neuronalen Rezeptoren im Innenohr, die die Kopfbewegung wahrnehmen und diese Information so weitergeben, dass sie die Augenbewegung beeinflusst. Wie das System der Sichtgeschwindigkeitsneurone wirkt auch dieses System Kopfbewegungen dynamisch entgegen und verhindert, dass das Bild zu weit über die Netzhaut rutscht.
    Wir kennen nun zwei Systeme, die uns aufs Ziel ausrichten; eines nimmt die Sichtgeschwindigkeit wahr und eines Kopfbewegungen. Wie werden nun diese beiden Systeme verknüpft? Wie wir sehen werden, wird dazu das eine in Abhängigkeit vom anderen kalibriert.
    In den 1890er Jahren führte George M. Stratton ein Experiment durch, das Richard Gregory als das vielleicht berühmteste der gesamten Experimentalpsychologie bezeichnete. 88 Er trug mehrere Tage lang eine Brille, die Oben und Unten sowie Rechts und Links umkehrte, um festzustellen, ob sein Gehirn sich an die neue Situation anpassen würde. Diese Brille verkehrt die Wirkung von Kopfbewegungen; wenn man also den Kopf in eine Richtung dreht, verschiebt sich das Gesichtsfeld entgegengesetzt zur normalen Richtung. AlsStratton diese Brille erstmals aufsetzte, war er sehr verwirrt – wenn er seinen Kopf drehte, nahm er visuell das Gegenteil von dem wahr, was er erwartete. Als er aber die Brille etwa eine Woche lang ständig getragen hatte, stellte er fest, dass alles wieder relativ normal aussah – er hatte sich an die neuen Gegebenheiten angepasst. Wie spätere Studien erwiesen, besteht eine Wirkung solcher Anpassungen darin, dass die Reaktion auf Kopfbewegungen umgekehrt wird – die Augen drehen sich genau andersherum als normalerweise bei einer Kopfbewegung; und das auch noch im Dunklen. Obwohl sie in die Gegenrichtung gehen, ist der Gesamteffekt der Augenbewegungen derselbe: Das Bild auf der Netzhaut soll nicht verrutschen, auch jetzt mit der Umkehrbrille nicht. Wie kommt es zu dieser neuen Anpassung?
    Wenn wir unseren Kopf von links nach rechts bewegen, lernen Neurone in Hirnregionen wie dem Kleinhirn, Inputs aus dem Innenohr und dem Sehsystem zu kalibrieren. Diese Neurone funktionieren entsprechend den Diskrepanzneuronen, denen wir bei den Sakkaden begegnet sind, tarieren also einen Input gegen einen anderen aus. Wenn wir uns einmal kalibriert haben, feuern bei einer Kopfbewegung mit geschlossenen Augen die Diskrepanzneurone im Kleinhirn, denn es gibt Input aus dem Innenohr, aber keinen ausgleichenden visuellen Input. Dieses Feuern der Diskrepanzneurone führt dazu, dass die Augen sich um den angemessenen Winkel drehen. Beim Tragen einer Umkehrbrille passen sich die Diskrepanzneurone an die neue Situation an und erfassen das umgekehrte Verhältnis zwischen Signalen aus Innenohr und Sichtgeschwindigkeitsneuronen. Daraus folgt, dass die Augen nun in die entgegengesetzte Richtung gesteuert werden, wenn der Kopf sich dreht, so dass der Blick auch in der neuen Situation stabil bleibt.
    Diese Kalibrierung hilft uns aber nicht nur, auf unser Ziel gerichtet zu bleiben, sondern auch, die Auswirkungen unserer Bewegungen von denen der Umwelt zu unterscheiden. Als George Stratton seine Umkehrbrille erstmals aufsetzte, hatte er ein Gefühl externer Bewegung, wenn er den Kopf bewegte: »Mir war nicht, als würde ich visuell über eine Reihe unbewegter Gegenstände streifen, sondern das ganze Feld der Gegenstände schwang und schwappte vor meinen Augen herum.« 89 Und zwar, weil sein Gehirn vorher auf das normale Sehen kalibriert war und jetzt Diskrepanzen zwischen seinen Handlungen und den erwarteten visuellen Effekten feststellte. Gemäß unserem Schema bewirkte die Aktivität bestimmter Diskrepanzneurone seine Wahrnehmung externer Bewegung. Als er die Brille ein paar Tage getragen hatte, hatten sich seine Diskrepanzneurone neu kalibriert, und sein Eindruck, bei eigenen Handlungen würden sich die Dinge bewegen, verschwand.
    Der Vorteil dieser ständigen Kalibrierung liegt darin, dass wir so extern gesteuerte Ereignisse von Bewegungen unterscheiden können, die wir selbst mit unseren Handlungen verursacht haben. Sehen wir aus dem Fenster

Weitere Kostenlose Bücher