Die Fotografin
verklebten Stufen setzen, alles dreht sich und ich habe noch immer nicht genügend Luft zum Atmen.
„Ich komme gleich nach!“, rufe ich Marion hinterher, die tapfer weiter nach oben steigt und sich jetzt nicht weiter um mich kümmert.
Ich lehne meinen Kopf an das schmiedeeiserne Geländer und starre durch das Treppenhaus nach oben, wo sich der Handlauf im fünften Stockwerk im Dämmerlicht verliert. Dort, wo das Unheil seinen Anfang genommen hat.
Oben schiebt sich ein Kopf über das Geländer und eine schattenhafte Gestalt blickt überrascht zu mir nach unten. Obwohl die Person fast völlig vom Halbdunkel verschluckt wird, weiß ich sofort, wer mich so intensiv beobachtet. Dieses Gesicht würde ich unter tausenden wieder erkennen: Es ist Talvin.
„So, hast du deinen Entschluss doch noch einmal überdacht?“, ruft er mit seiner weichen exotisch klingenden Stimme zu mir nach unten. „Bist also wieder zurückgekehrt?“
Talvin beugt sich weiter über das Treppengeländer, um mich genauer sehen zu können.
„Aber dafür ist es jetzt leider zu spät!“
In seiner Stimme schwingt so etwas wie Bedauern mit und ich verrenke meinen Hals, um ihn in dem Zwielicht deutlicher erkennen zu können.
Talvin hat sich inzwischen gefährlich weit über das Treppengeländer gebeugt. Es fehlt nicht mehr viel und er würde das Gleichgewicht verlieren und bis in den Keller stürzen. Er trägt kein Hemd und sein nackter Oberkörper glänzt und schillert wie verdorbenes Fleisch. Mit einem leisen Plitsch-Platsch fallen einzelne Tropfen auf den Handlauf, zerplatzen dort und winzige Partikel treffen mich an der Wange. Mühsam ziehe ich mich am Geländer hoch und starre nach oben. Talvins Körper ragt bereits unnatürlich weit über das Geländer hinaus, er tariert jetzt mit ausgestreckten Armen sein Gleichgewicht aus, um nicht abzustürzen. Sein Oberkörper ist mit Stichwunden übersät und aus den unzähligen tiefen Schnitten tropft Blut nach unten und benetzt wie ein feiner Sprühregen mein Gesicht.
„Marion, hilf mir! Ich muss von hier weg!“, schreie ich und meine Stimme verursacht in dem Treppenhaus einen unwirklich klingenden Widerhall. „Talvin ist tot! Ich habe ihn getötet!“
„Adriana! So warte doch!“ Marion ist bereits im dritten Stockwerk und rast auf ihren klappernden Stöckeln wieder nach unten. Sie scheint nichts von Talvin mitbekommen zu haben und als ich jetzt nach oben sehe, ist Talvin verschwunden und niemand mehr zu sehen.
„Bleib stehen Adriana! Was ist passiert?“, höre ich noch Marions Rufe, als ich durch das muffige Foyer laufe. Doch an der Eingangstür erwartet mich bereits Talvin, um mir mit einer servilen Geste das Tor zu öffnen.
„Das hättest du nicht tun dürfen“, sagt er und ein trauriges Lächeln umspielt seine Lippen. „Dieses Ende habe ich nicht verdient!“
„Verschwinde!“, kreische ich und hebe drohend meine Kamera. „Lass mich endlich in Ruhe!“
Ein älterer Handwerker, der noch immer wie erstarrt neben der geöffneten Eingangstür steht, zuckt plötzlich erschrocken zurück.
„Ich wollte Ihnen doch bloß die Tür aufhalten, gnädige Frau!“
Aber das höre ich schon nicht mehr. Ich will nur noch weg aus diesem düsteren Haus, weg von dem toten Talvin, weg von dem Gedanken, dass ich ihn getötet habe.
Ich laufe planlos die Operngasse hinunter, Marion schreit mir etwas hinterher, aber ich kann nicht aufhören zu laufen. Das grelle Sonnenlicht blendet mich und mit der Helligkeit kehrt die Erinnerung erbarmungslos zurück.
Ich stehe nackt und blutbeschmiert vor Talvin, der auf dem Boden liegt und eine Blutlache breitet sich langsam auf dem Boden aus. Ich starre auf das Blut, das unerbittlich auf meine nackten Füße zu rinnt, und kann mich nicht bewegen, kann einfach nicht weglaufen. Stattdessen lasse ich das blutige Messer aus meiner Hand fallen, dessen geschwungene Klinge soeben Talvins Körper zerstochen hat. Denn nicht nur einmal, sondern mehrmals wurde das Messer in seinen Oberkörper gestoßen. Wütend, brutal und mit dem festen Vorsatz, zu töten. Ich versuche, dieses letzte verschüttete Erinnerungsfragment aus meinem Gedächtnis hervorzuholen, aber da ist nichts, nur ein helles Licht, wie bei einem überbelichteten Foto. Noch immer weiß ich nicht mit letzter Sicherheit, ob ich es wirklich getan habe, ob ich meinen Liebhaber wirklich getötet habe.
7. Mittwoch - vormittags
Die Polizei rast mit Blaulicht die Währinger Straße entlang, gerade in dem Moment,
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