Die Fotografin
lächelt er und winkt mir mit beiden Händen zu, ich springe in die Luft und winke zurück. Das ist Paul, denke ich für einen kurzen Moment und bin glücklich, so glücklich wie schon lange nicht mehr.
„Paul“, rufe ich laut und winke. „Paul! Deine Mama ist wieder da!“
Jetzt habe ich endlich meinen Sohn wiedergefunden. Jetzt kann ich endlich wieder tief einatmen und mein Herzschlag normalisiert sich. Jetzt wird alles gut.
Dieser Zustand dauert aber nur kurz, denn plötzlich taucht eine Frau am Fenster auf. Sie hat einen blitzenden Nasenring und auf dem Kopf einen lila Turban. Das muss die Kindergärtnerin sein. Sie steht raumfüllend in der Fensteröffnung und verdrängt die Luft zu den Seiten.
„Suchen Sie jemanden?“, fragt sie argwöhnisch und mustert mich von oben bis unten.
„Nein, nein!“ Ich trete einen Schritt zurück und hebe beschwichtigend die Hände. „Der blonde Junge auf dem Schaukelpferd. Wie heißt er?“
„Warum wollen Sie das wissen?“, erwidert die Kindergärtnerin und der Argwohn in ihrer Stimme verstärkt sich. „Warum haben Sie ‚Mama ist da!‘ gerufen? Sie sind doch gar nicht seine Mutter. Was wollen Sie also?“
„Nein, natürlich nicht! Es war dumm von mir, dass ich gerufen habe. Entschuldigen Sie bitte. Aber der Junge erinnert mich an meinen Sohn.“ Ich trete noch einen Schritt zurück, bin jetzt schon gefährlich nahe am Gehsteigrand. Autos und Lkws nutzen die kurzen Grünphasen und donnern mit aufheulenden Motoren knapp hinter mir vorbei. Nur noch ein kleiner Schritt zurück, dann stehe ich auf der Straße, würde von einem Fahrzeug erfasst und dieses elende Leben wäre vorüber. Doch ich will nicht aufgeben.
„Mein Sohn Paul ist im gleichen Alter gewesen.“ Ich hole tief Luft, denn mein Herzschlag beschleunigt sich wieder unerbittlich und macht das Atmen anstrengend. „Paul ist vor fünf Jahren gestorben.“
„Oh, das tut mir leid!“ Die Kindergärtnerin wirkt ehrlich betroffen. „Das war sicher schlimm für Sie.“
„Ist es immer noch.“ Ich schniefe laut und schnappe nach Luft, als wäre ich kilometerweit gelaufen. „Ich komme einfach nicht darüber hinweg. Ich schaffe es nicht!“ Kraftlos sinke ich in die Knie, sehe hinauf zu der Kindergärtnerin mit dem lila Turban, die sich jetzt aus dem Fenster lehnt.
„Der Junge heißt Sebastian.“ Die Kindergärtnerin lächelt und der Ring in ihrem linken Nasenflügel blitzt in der Sonne. „Möchten Sie nicht hereinkommen und den Kindern beim Spielen zusehen? Vielleicht hilft Ihnen das und Sie können Ihren Schmerz besser verarbeiten.“
„Meinen Sie das im Ernst?“ Ich bin gerührt von so viel Verständnis und wische mir verstohlen die Tränen aus den Augen. Die Kamera ist mit einem Mal leicht und der Abgrund weit entfernt.
Sebastian ist ganz anders als Paul. Ihn interessieren keine Stofftiere, er will Techniker werden. Besonders meine Kamera fasziniert ihn und geduldig zeige ich ihm, wie sie funktioniert. Es ist das erste Mal, dass ich seit Pauls Tod mit einem Kind spiele und ich wundere mich, warum ich das nicht schon früher gemacht habe. Ich hatte immer Angst davor, endgültig zusammenzubrechen und den Verstand zu verlieren, wenn ich Jungs in Pauls Alter sehe. Aber das Gegenteil ist der Fall. Diese Begegnung macht mich glücklich. Auf einem niedrigen Tischchen liegen Malbücher und Comic-Hefte. Mein Blick bleibt an einem Peter-Pan-Comic hängen. Auf dem Cover die übliche Szene. Der grün gekleidete Peter Pan, Wendy in ihrem Nachthemd und die Fee Tinkerbell mit ihren hauchdünnen Flügeln und dem Zauberstab. Die Fee Tinkerbell. Aber ich komme nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn Sebastians Mutter kommt, um ihren Sohn abzuholen.
„Ich habe Sie noch nie hier gesehen“, begrüßt sie mich neugierig und setzt sich zu mir auf den Boden. „Tolle Kamera haben Sie da!“
„Ich bin Fotografin“, antworte ich und streiche Sebastian über die blonden Haare. Dieser bemerkt es nicht einmal, so sehr ist er damit beschäftigt, an meiner Kamera herumzuschrauben.
„Das trifft sich aber gut.“ Sebastians Mutter, eine hübsche Frau Anfang dreißig mit einem offenen klaren Gesicht und kurzen brünetten Haaren, ist ganz außer sich vor Freude. „Sie könnten bei Sebastians fünftem Geburtstag fotografieren, das wäre wunderbar. Bringen Sie doch auch Ihr Kind mit.“
Als sie meinen verwunderten Gesichtsausdruck bemerkt, fügt sie rasch hinzu: „Natürlich bezahlen wir Sie für die
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