Die Fotografin
Fotos.“
„Darum geht es nicht!“, antworte ich traurig. „Ich habe kein Kind mehr. Mein Sohn ist vor fünf Jahren gestorben und Sebastian hat mich an ihn erinnert. Ich glaube nicht, dass ich an seinem Geburtstag fotografieren kann. Das schaffe ich einfach nicht.“
„Oh, das tut mir aber leid. Verzeihen Sie, dass ich so taktlos war. Das verstehe ich natürlich.“ Sebastians Mutter blickt betreten zu Boden, weiß nicht, was sie noch sagen soll und dreht sich daher einfach auf dem Boden herum und beginnt mit den anderen Kindern zu spielen.
„Aber das konnten Sie ja nicht wissen“, sage ich nach einer längeren Pause.
Langsam löst sich die dunkle Wolke auf, die schon den ganzen Tag meinen Verstand einhüllte und ich beginne mich zu entspannen. Vor Sebastian und den anderen Kindern zerlege ich meine Kamera, erkläre jedes einzelne Teil und schraube alles in Windeseile wieder zusammen.
„Du machst das wie die Killer mit ihren Waffen in meinem Videogame“, schreit ein besonders aufgeweckter Junge in die Runde. Die Kindergärtnerin schenkt ihm einen missbilligenden Blick und auch Sebastians Mutter schüttelt den Kopf.
„So, ich denke wir müssen nach Hause, Sebastian!“
Die Magie der Unschuld ist verflogen, das spüre ich ganz deutlich und deshalb schnappe ich meine Kamera und stehe ebenfalls auf.
„War nett, Sie kennenzulernen!“, sagt Sebastians Mutter und streckt mir die Hand hin. „Vielleicht treffen wir uns einmal wieder“, sagt sie noch beim Hinausgehen. Aber ich weiß, dass ich sie nie wieder sehen werde und öffne ebenfalls die Regenbogentür.
„Somewhere over the rainbow! Das war Pauls Einschlaflied …“, flüstere ich beinahe unhörbar der Kindergärtnerin zu und deute auf die Regenbogentür. „Danke, dass Sie mir diese Freude ermöglicht haben!“
Ich bin wieder allein, so allein, dass es fast körperlich schmerzt, und zum ersten Mal kann ich Gregor, meinen Mann verstehen, der von einer intakten Familie träumt. Ja, eine Familie ist ein Hafen, der Schutz bietet und ein Anker, der auch ein so kaputtes Leben wie meins selbst im ärgsten Sturm nicht loslässt. Ich bin noch ganz aufgewühlt von der Begegnung mit dem kleinen Jungen Sebastian und brauche jetzt jemanden, der mich in den Arm nimmt und der mich tröstet. Ich will zu Gregor, meinem Mann. Warum ist er jetzt nicht da, wo ich ihn brauche?
Die Geschäfte, an denen ich vorbeihaste, sind heruntergekommen und schäbig. Viele sind auch leer und die Eingänge mit Brettern vernagelt. In der Aufregung habe ich die falsche Richtung gewählt und bin statt in die Innenstadt jetzt schon weit draußen am Gürtel, wo die Animierlokale und Pornokinos dicht an dicht stehen und die Diskontläden ihren Ramsch feilbieten. Wie benommen haste ich über den von der spätnachmittäglichen Hitze aufgeweichten Belag der Gehsteige, ignoriere meine schmerzenden Füße in den bunten jugendlichen Sneakers. Wenn ich könnte, würde ich sie mir von den Füßen reißen und barfuß über den zerplatzten Asphalt laufen, doch das geht natürlich nicht, das wäre verrückt.
Je weiter ich über den Gürtel hinausgehe, desto dünner wird die Luft. Die Reserven, die ich in meiner Lunge zuvor gespeichert habe, sind längst verbraucht und ich muss wieder um jeden Atemzug kämpfen. Schweißüberströmt bleibe ich stehen und starre durch ein verschmiertes Schaufenster. Meine Silhouette spiegelt sich im Licht der hinter den Häusern verschwindenden Sonne im Glas. Die Schrift am oberen Rand der Scheibe ist nicht zu entziffern, aber es ist ein Diskontladen, der indische Spezialitäten anbietet.
In diesem Moment sehe ich Talvin!
Jeder Zweifel ist ausgeschlossen – er ist es! Reflexartig hebe ich die Kamera, schalte auf Dauerfeuer, peng, peng, peng! Diesmal entkommst du mir nicht, diesmal bleibst du sichtbar als Beweis!
Talvin steht in dem Laden und betrachtet konzentriert den Inhalt eines Regals. In seiner Hand hält er eine Gewürzdose, die er prüfend ansieht. Seine blauschwarzen Haare trägt er zwar anders als zuvor, doch seine seidigen Wimpern, lang und dicht wie ein schwarzer Vorhang, sind dieselben. In dem weißen Mantel, den er trägt, wirkt er auf mich noch viel geheimnisvoller, viel dunkler, viel schöner und viel begehrenswerter.
Ich danke dem Schicksal, das mich heute geführt hat: Zunächst zu der Kindertagesstätte, wo ich durch die Begegnung mit Sebastian wieder neuen Mut geschöpft habe. Und jetzt dieses unverhoffte Zusammentreffen mit Talvin,
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