Die Fotografin
starrt ins Nirgendwo, ihr Gesicht ist in dem grellen Neonlicht kalkweiß. Einige Strähnen ihrer graubraunen Haare haben sich aus dem Zopf gelöst und hängen dünn und kraftlos auf ihre Schultern. Sie hat ein hübsches Gesicht, dem es aber an Energie und Lebenslust fehlt. Natürlich bemerkt sie sofort, dass ich sie beobachte. Langsam kommt sie zu mir herüber, setzt sich neben mich auf die Bank.
„Was gibt’s?“, fragt sie kurz angebunden. „Ihre Geschichte ist ja wirklich sehr abenteuerlich. Man könnte sie fast glauben“, eröffnet sie das Gespräch, ohne mich dabei anzusehen. Sie hat den Kopf gesenkt und stiert auf die quadratischen Kacheln, die dem Vorraum des Polizeireviers einen unglaublich elenden Touch geben.
„Diese Geschichte stimmt“, sage ich leise und erzähle ihr alles nochmals von Anfang an, genauso wie ich es ihr schon in dem Hinterhof erzählt habe. „Es kann nicht sein, dass dieser Mann nicht mehr existiert. Das ist einfach unmöglich!“, flüstere ich, obwohl niemand in der Nähe ist, der uns zuhören könnte. „Bitte, bitte, helfen Sie mir, das Mädchen mit dem Tinkerbell-Tattoo zu finden. Sie hat mich erkannt und sie wird mir sagen, was hier eigentlich gespielt wird.“
„Warum interessiert es Sie so, ob Ihr Liebhaber existiert oder nicht?“ Isabelle Wagner fixiert noch immer die schmierigen Fußbodenkacheln. „Sie haben ihn doch verlassen, wollten wieder zurück zu Ihrem Mann, zurück in die schützenden Arme Ihrer Familie.“
„Das haben Sie aber schön gesagt!“, mache ich Isabelle Wagner ein Kompliment, denn genauso ist es ja, ich will zurück in den ruhigen Hafen unserer kleinen Familie. Dorthin, wo alles seinen richtigen Weg geht und keine Überraschungen mehr auf mich lauern.
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet!“, nimmt sie den Faden wieder auf. „Warum interessiert Sie das alles noch immer?“
Das ist der springende Punkt. Soll ich ihr erzählen, dass ich noch immer diese Erinnerungsfetzen habe und glaube, meinen Liebhaber ermordet zu haben? Dass ich denke, er liegt in der Dachterrassenwohnung in der Operngasse und verwest langsam, bis nichts mehr von ihm übrig bleibt, nur noch die Gedanken an ihn und die Bilder in meiner Fotogalerie, die aber nach und nach verblassen, bis sie sich schließlich völlig auflösen und selbst ich der Meinung bin, dass Talvin Singh nie existiert hat?
Aber das kann ich der Polizistin natürlich nicht sagen, deshalb schweige ich auch, nage an der Unterlippe wie ein kleines Mädchen.
„Können Sie keine Nachforschungen für mich anstellen?“, raune ich und bin jetzt beinahe unhörbar. „Sie können doch den gesamten Polizeiapparat nutzen, um herauszufinden, ob ein Talvin Singh existiert.“ Überrascht blickt Isabelle Wagner auf, hat mit dieser Frage anscheinend nicht gerechnet.
„Das ist völlig ausgeschlossen! Ich kann den Polizeiapparat doch nicht für private Recherchen missbrauchen.“
„Bitte! Bitte!“, flehe ich sie an und versuche, Augenkontakt zu ihr herzustellen.
„Nein, das geht nicht!“, antwortet Isabelle Wagner nach einer Weile und zwirbelt nervös eine Strähne ihres dünnen Haares zwischen ihren Fingern. „Ich bin nur eine kleine Streifenpolizistin und kann überhaupt nichts für Sie tun.“
„Aber mein Freund war tot, bevor er mir etwas Wichtiges über den verschwundenen Talvin Singh mitteilen konnte. Ich bin mir sicher, dass es darum ging. Warum begeht außerdem jemand Selbstmord, wenn er doch noch eine Verabredung hat? Das ergibt doch keinen Sinn!“
Das scheint Isabelle Wagner nachdenklich zu stimmen. Unbewusst legt sie ihre Hand auf meinen Arm und klopft sanft mit den Fingern. Ihre Nägel sind kurz und unlackiert, einige bis zum Nagelbett abgebissen.
„Warten Sie! Ich kenne einen Inspektor bei der Kriminalpolizei, der ist mir noch einen Gefallen schuldig. Ich werde ihm Ihre Geschichte erzählen, vielleicht interessiert es ihn und er stellt ein paar Nachforschungen an. Alles natürlich nur in ganz bescheidenem Rahmen.“
„Natürlich! Natürlich!“ Ich packe ihre Hände und will sie küssen, doch sie reißt sie abrupt weg.
„Hören Sie auf. Sie sind doch komplett verrückt!“, zischt sie verhalten und sieht sich schnell um, ob jemand etwas bemerkt hat. „Erzählen Sie keiner Menschenseele davon, sonst bin ich für immer Streifenpolizistin. Diese Vorstellung würde ich einfach nicht aushalten.“ Sie greift in ihre Hosentasche und zieht eine völlig zerdrückte Visitenkarte
Weitere Kostenlose Bücher