Die Fotografin
hervor.
„Hier haben Sie meine private Adresse und meine Handynummer!“, sagt sie und hält mir die dünne Karte hin. „Ich weiß nicht, warum ich das tue. Also stecken Sie die Karte ein, ehe ich es mir anders überlege.“
Seufzend sieht Isabelle Wagner auf die Uhr an der Wand, die gleich vier Uhr morgens anzeigt, dann schlurft sie zu ihrem Kollegen, der noch immer dabei ist, die Identität und das wahre Alter der jungen Prostituierten zu knacken. Als sie sich wieder zu mir auf die Wartebank setzt, ist ihr Gesicht um noch eine Nuance grauer und ihre Augen knapp vor dem Erlöschen.
„Ich stamme aus Grenoble“, beginnt sie ohne Einleitung. „Eine hässliche Stadt, die in den sechziger Jahren erbaut wurde und fast nur aus Hochhäusern besteht, die von hohen Bergen eingekesselt sind. Dort bin ich aufgewachsen.“
Isabelle erzählt von ihrem trostlosen Leben und gerade, als ich sie in den Arm nehmen will, um sie zu trösten, wird die Tür aufgerissen und der Duft eines teuren Rasierwassers strömt mir entgegen.
„Adriana! Tut mir leid, dass du warten musstest. Aber ich war auf einer Wahlveranstaltung draußen auf dem Land.“
Gregor eilt auf mich zu, zieht mich an den Schultern hoch, drückt mich so fest, dass mir die Luft wegbleibt. Er riecht gut und sieht unglaublich ausgeschlafen aus, obwohl es vier Uhr morgens ist. Isabelle Wagner, die in ihrer unschicken, aber praktischen Uniform neben mir sitzt, registriert er nicht einmal. Gregor hat nur Augen für mich.
„Du hast hoffentlich mit niemandem geredet?“, fragt er leise und zieht meinen Kopf am Kinn hoch, um in meinen Augen die Wahrheit lesen zu können.
„Man hat mich zum Selbstmord von Raul befragt“, antworte ich wahrheitsgemäß und mit dieser Antwort scheint Gregor zufrieden zu sein. Er holt sich einen Becher mit Wasser aus dem Spender neben der Tür und trinkt hastig wie ein Verdurstender.
„Wie dem auch sei, deine Aussage ist eh in jedem Fall ungültig, da du ja psychisch labil bist.“ Mit einer Handbewegung würgt er meinen empörten Protest ab und deutet auf einen geschniegelten Mann, der mich wie eine unbekannte Spezies Mensch interessiert durch seine randlose Brille betrachtet.
„Das ist Dr. Atzbach, der Anwalt der Partei! Er wird alles regeln!“
Dr. Atzbach nickt mir zu, ohne mir jedoch die Hand zu reichen. Aufrecht wie ein Soldat geht er nach hinten in den großen Raum mit den vielen Schreibtischen, kramt währenddessen in seiner Aktentasche und hält dem Macho-Kollegen von Isabelle Wagner ein Schriftstück unter die Nase.
„Jetzt aber raus hier, bevor jemand von der Presse Wind davon bekommt!“, zischt Gregor und packt mich fest am Arm. „Wie schön ist es doch, zu wissen, dass die Familie immer hinter einem steht. Findest du nicht, Adriana?“
Ich bin mir nicht sicher, ob das zynisch gemeint ist oder nicht und riskiere einen kurzen Seitenblick auf Gregor, der den leeren Wasserbecher energisch zusammendrückt. Als er mich von der Bank hochzieht, fällt sein Blick zum ersten Mal auf Isabelle Wagner.
Gregor runzelt die Stirn und kneift die Augen zusammen, um das Namensschildchen auf ihrer Uniformbluse besser lesen zu können.
„Isabelle Wagner. Sie sind doch die Polizistin, die meine Frau gegen die Scheibe des Polizeiwagens gestoßen hat?“ Mit seiner rechten Hand schiebt er mich hinter seinen Rücken und baut sich vor Isabelle Wagner auf, die zusammengesunken auf der Bank sitzt und ihre Finger knetet, weil sie nicht recht weiß, was sie mit ihren Händen anfangen soll.
„Das wird noch ein Nachspiel haben! Eine Dienstaufsichtsbeschwerde nach sich ziehen!“ Gregor drückt sich gerne in diesem Stenogrammstil aus, das unterstreicht sein Macher-Image. Verächtlich sieht er auf die Frau hinunter, wie auf ein kleines hässliches Insekt. „Versuchen Sie bloß nicht, mir ans Bein zu pinkeln!“, flüstert er noch gefährlich leise und drückt aggressiv den Plastikbecher in seiner Hand noch weiter zusammen. Isabelle Wagner hebt den Kopf und in ihren Augen ist plötzlich ein Feuer, das ich so noch nie bei ihr gesehen habe. Auch Gregor zuckt überrascht zurück, verzieht dann aber nur zynisch den Mund und spuckt in den zerknautschten Becher. Angeekelt lässt er ihn dann direkt vor die Füße von Isabelle Wagner fallen. „Das ist für Sie!“
„Gregor, bitte!“, versuche ich ihn zu besänftigen, doch er lässt seine flache Hand durch die Luft sausen, signalisiert mir, dass ich mich nicht einmischen soll. Isabelle Wagner
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