Die Fotografin
und lecke über die Wunde in meiner Handfläche. Ich bin zu müde, um mit dem Mann weiterzudiskutieren. Willenlos lasse ich mich voranschleppen, bis wir in einen großen Raum mit mehreren Schreibtischen gelangen. Die Schreibtische sind bis auf zwei unbesetzt und der Polizeibeamte schiebt mich zu einem von ihnen und drückt mich auf einen Stuhl. Der Kollege von Isabelle Wagner sitzt mir gegenüber und verschränkt die Hände hinten im Nacken. Die Schweißflecken unter seinen Achseln sind noch größer geworden, doch als er meinen Blick bemerkt, macht er keinerlei Anstalten, seine Arme herunterzunehmen. Isabelle Wagner sehe ich nirgends – zu meinem Bedauern.
„Was haben wir denn da?“, sagt er und schnellt abrupt nach vorne. Er greift zu einem Blatt Papier und beginnt, daraus eine Zeugenaussage laut vorzulesen. Es ist die Aussage des alten Mannes, der mich angeblich am Balkongeländer gesehen hat, als Raul hinunterstürzte.
„Das stimmt so nicht“, wiederhole ich schon zum dritten Mal und erkläre erneut meine Version der Geschichte. Dann holt er den Papierfetzen mit Rauls Schrift hervor und wieder kann ich nur ratlos mit den Achseln zucken. Intuitiv merke ich, dass sich der Polizist in eine Sackgasse manövriert hat, denn der Zeuge ist über achtzig Jahre alt. Das sehe ich nach einem schnellen Blick auf das Protokoll und der Papierfetzen wurde von einem größeren Blatt abgerissen. Die Beweislage ist also ausgesprochen dünn.
Als ich hinter mir ein Geräusch höre, drehe ich mich reflexartig um. Es ist Isabelle Wagner, die mit einem Kaffeebecher durch den Raum schleicht. Ich bin gerührt, dass sie an mich denkt, denn ein starker Kaffee wird meine Lebensgeister wieder heben. Doch Isabelle Wagner stellt den Kaffee vor ihren Kollegen, der ihr freundlich den Hintern tätschelt.
„Bist ein Schatz, Isabelle!“
Isabelle Wagner lächelt gekünstelt und als ich zu ihr hochschaue, erwidert sie meinen Blick mit ihren bernsteinfarbenen Augen. Ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht glaubt sie meine Geschichte und ich kann weg, ehe Gregor Wind von der ganzen Sache bekommt.
„Sie scheinen ja mächtige Fürsprecher zu haben, Frau See!“, sagt der Polizist, nachdem er aufreizend laut den heißen Kaffee geschlürft hat. „Der Zwischenfall in dem indischen Laden oben am Gürtel wurde zu den Akten gelegt. Ist das in Ordnung, Isabelle? Was meinst du?“ Er dreht sich zu Isabelle Wagner, die jedoch verlegen zur Seite blickt.
„Wenn die da oben das so beschließen, dann richte ich mich danach!“
„Das nenne ich ja eine tolle Einstellung für eine Polizistin!“, ereifert sich ihr Kollege und wendet sich dann wieder mir zu.
„Der Selbstmord Ihres Freundes stinkt gewaltig, Frau See. Glauben Sie mir, ich spüre das in meinen Eiern!“ Grinsend lehnt er sich zurück und erwartet von mir eine empörte Antwort. Aber diesen Gefallen tue ich ihm nicht.
„Ich kann nur immer meine Aussage wiederholen: Ich bin in die Wohnung von Raul de Castro gekommen und da war niemand. Anschließend bin ich auf den Balkon und habe ihn unten im Hof liegen gesehen.“
„Ja, ja! Ich weiß schon und der Zettel in seiner Hand ist bloßer Zufall!“ Wütend schlägt er mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. „Wie auch immer. Sie können hier warten, bis sie abgeholt werden.“
„Wer soll mich denn abholen?“, frage ich erstaunt. „Niemand weiß doch, dass ich hier bin!“
„Jemand hat wieder einmal für Sie interveniert. So wie beim ersten Mal. Sie haben wirklich verdammtes Glück, Frau See. Ihr Mann kommt und nimmt Sie mit. Er hat gerade angerufen. Besser gesagt, anrufen lassen!“, verbessert sich Isabelle Wagners Kollege. „Ihr Mann scheint ja ein hohes Tier zu sein.“
„Wieso weiß er, dass ich hier bin?“, frage ich zaghaft, aber der Polizist winkt mich wortlos mit einer Handbewegung von seinem Schreibtisch nach hinten und verscheucht mich wie ein lästiges Insekt.
„Für Sie ist die Sache noch lange nicht ausgestanden, Frau See! Beziehungen hin oder her!“, ruft er mir noch wütend hinterher und knallt meine Akte auf seinen Schreibtisch.
„Nehmen Sie dort auf der Bank Platz und warten Sie auf Ihren Mann. Provozieren Sie meinen Kollegen bloß nicht“, flüstert mir Isabelle Wagner warnend zu.
Sie ist mit ihren Anzeigen fertig und wartet jetzt auf den Kollegen der zweiten Schicht, der sich gerade eine rührselige Geschichte der minderjährigen Prostituierten anhören muss. Isabelle Wagner lehnt an der Wand und
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