Die Fotografin
möchte schlafen und als ein komplett neuer Mensch wieder erwachen. Ich will jemand anderer sein. Alles einfach vergessen, denn ich habe keine Kraft mehr. Ich will nicht so enden wie Raul und einsam in einem Hinterhof sterben. Ich will leben und nicht von meinen ständigen Erinnerungen getötet werden. Es ist an der Zeit, dass ich eine Entscheidung treffe.
„Gregor, bitte bring mich wieder in die Klinik zu Dr. Mertens. Ich will wieder gesund werden!“, seufze ich und spüre, dass sich mein Widerstand auflöst und ich wie Wachs in den Händen von Gregor bin. Doch es kommt ganz anders, als ich mir gedacht habe.
„Dafür ist es jetzt zu spät, Adriana! Das hättest du dir früher überlegen müssen. Mit deiner Flucht aus der Klinik hast du viel zu viel Aufsehen erregt! Man kennt dich dort als meine Frau und die Presse wird Wind davon bekommen, dass eine Politikergattin in der Nervenklinik ist.“
Widerlich leckt sich Gregor über die Lippen, aber ich bin zu kraftlos, um dagegenzuhalten.
„Brandt und der Parteivorsitzende finden, das Sicherste für die Partei ist, wenn du zuhause gepflegt wirst. Da kannst du dich am besten erholen. Niemand wird sich für dich interessieren und nach der Wahl sehen wir weiter. Mit der Zeit erkennst du hoffentlich, dass deine sogenannten Erinnerungen nur böse Träume gewesen sind.“
Ein böser Traum, ja das ist mein Leben im Augenblick wahrlich und ich hoffe, dass ich bald aus diesem Albtraum erwache und nichts davon Wirklichkeit ist. Daran glaube ich ganz fest.
15. Montag – abends
Vor einer Woche habe ich mir eingebildet, meinen Liebhaber getötet zu haben. Aber jetzt ist alles anders. Ich habe akzeptiert, dass meine vermeintliche Affäre mit Talvin Singh bloße Fantasie ist. Habe eingesehen, dass alles nur in meinen Gedanken existiert. Bin jetzt eine brave Patientin, die nicht mehr versucht, irgendwelchen Trugbildern hinterherzujagen.
Wie ist es dazu gekommen?
Gregor hat mir Fotos der Wohnung gezeigt, die Marion aufgenommen hat. Es stimmt, es ist die Wohnung aus meinen Albträumen, aber sie sieht tatsächlich komplett unbenutzt aus. Nirgends gibt es Blutspuren und im Schlafzimmer wirkt auch das Bett leer und unbenutzt. Ein trauriges Bild. Die Fotos habe ich nur unter Aufsicht von Gregor betrachten dürfen. Seinen Blick im Nacken, habe ich mich durchgeklickt und mir verboten, Situationen mit Talvin aus meiner Kopfgalerie aufzurufen und mit jenen Bildern zu vergleichen, die so seelenlos und verloren wirken.
„Adriana, du siehst also selbst, es gibt nichts, was auch nur im Entferntesten mit deinen Fantasien zu tun hat“, sagt Gregor im Brustton der Überzeugung, ehe er zu einer TV-Talkshow über Familienwerte aufbricht. Ich bin jetzt zuhause und es ist das erste Mal, dass Gregor mich alleine in unserem Haus zurücklässt. Bisher waren immer Brandt und einige andere Mitarbeiter der Partei bei uns aufgetaucht, hatten sich mit Gregor in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, während ich teilnahmslos im Bett lag und gehorsam die Tabletten schluckte, die Dr. Mertens mir verschrieben hat.
Ich bin nicht ganz alleine, das stimmt so nicht, denn auf Anraten der Partei hat Gregor eine Pflegerin engagiert, die sich ständig um mich kümmert. Sie ist dick und fleischig, und wenn sie mein Zimmer betritt, riecht sie intensiv nach kaltem Zigarettenrauch. Als ich sie darauf anspreche, beharrt sie darauf, nicht mehr als drei Zigaretten täglich zu rauchen, aber das glaube ich ihr nicht. Sonst redet sie kaum ein Wort mit mir und ich weiß nur, dass sie Frieda heißt und in ihrer Jugend am Heumarkt als Catcherin gearbeitet hat. Nachdem sie sich die Schulter gebrochen hat, ließ sie sich zur Spezialpflegerin umschulen. Spezialpflegerin ist eine hübsche Umschreibung für ihr eigentliches Aufgabengebiet: Gregor hat sie als Aufpasserin engagiert, damit ich keine Dummheiten mache.
„Kannst du mir die Bilder von der Wohnung auf den Computer spielen?“, frage ich ihn, ehe er das Haus verlässt.
„Adriana, du sollst nicht ständig an deine Albträume erinnert werden. Deshalb lautet die Antwort des Familienoberhauptes: Nein!“
Das sollte wohl lustig gemeint sein, aber für mich klingt es nach Entmündigung.
„Ist schon in Ordnung!“ Ich winke erschöpft ab, im Grunde ist es mir auch einerlei, ob ich die Bilder habe oder nicht.
„Ich bin spätestens um zehn Uhr zurück“, brüllt Georg von unten durch das ganze Haus. „Du kannst dir die Talkshow ja im Kabelfernsehen ansehen.“
Aber das
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