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Die Fotografin

Die Fotografin

Titel: Die Fotografin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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hieß. Sondern Martin, den sie »Kleiner« nannte – wenn sie ihn kindisch fand.
    Ihre Affäre damals war bei Helen auf schieres Unverständnis und bei anderen auf herablassendes Wohlwollen getroffen. Da hatten sich zwei getroffen, die zusammenpaßten wie der Arsch auf den Eimer. Zwei, die gleich schwer trugen an ihrer Herkunft. Zwei, die rauswollten aus dem Käfig. Und die völlig unterschiedliche Wege gingen dabei.
    Sie – nun, sie hatte sich irgendwann vorgenommen, da anzukommen, wo sie jetzt war. Mindestens. Er…
    Warum kannst du nicht Ruhe geben, Kleiner? dachte sie. Warum bleibst du nicht, wo du bist, läßt dir von alten Freunden und Bekannten regelmäßig einen Scheck zuschicken, liest ein gutes Buch und freust dich an deinem Leben in Freiheit. Warum benutzt du nicht endlich einmal dein bißchen Verstand?
    Aber so war er immer schon gewesen. Er dachte die Dinge nicht zu Ende. Er hatte es sowieso nicht sonderlich mit dem Denken. Alles Maulhurerei, pflegte er zu sagen, wenn jemand gescheit schwätzte. Die blicken’s doch nicht. Zivilversager. Scheißintellektuelle. Die machen sich doch die Hosen voll, wenn es mal wirklich zur Sache geht.
    Er hatte ja recht gehabt. Sie mochte auch keine Klugschwätzer und Sprücheklopfer. Das unterschied ihn so beruhigend von den anderen, in deren Gesellschaft ihr unwohl war, weil sie nicht wußte, ob sie ihr nicht womöglich doch überlegen waren mit ihren hochgestochenen Vokabeln, die Geheimwissen vorgaben. Vielleicht hatte er klarer als sie erkannt, daß da kein Geheimnis war, sondern heiße Luft in leeren Eierköpfen.
    Der Haken war nur: er wäre so gern einer gewesen. Einer von denen.
    Dorothea schüttete den Tee weg und goß sich ein Glas Tomatensaft ein. Sie überlegte, ob sie einen Schuß Wodka dazutun sollte. Vor dem Abendessen? fragte ihre innere Stimme entgeistert. Was denn sonst? fragte sie zurück und holte die Flasche aus dem Eisfach. Und – welches Abendessen?
    Tatsächlich hatten Martin und sie nichts, aber auch gar nichts gemein gehabt, höchstens die Verachtung für Gott und die Welt. Aber während das bei ihr ein gleichbleibendes, verläßliches Gefühl war, wurde seine Abwehr immer größer. Sie wuchs und wuchs, bis sie eine ungeheure Wut wurde. Sie kochte über, quoll aus ihm heraus, wollte sich ausbreiten wie der Brei aus dem Hirsetopf. Diese Wut wollte alles niedermachen.
    Ich hätte es merken können, dachte Dorothea. Vielleicht hätte ich es sehen müssen.
    Sie goß eine großzügige Dosis Wodka in den Tomatensaft, gab Salz und Pfeffer dazu und rührte um. Der erste Schluck erzeugte einen Hustenanfall. Danach war ihr endlich warm.
    Sie hatte nichts begriffen. Hatte sie ihn sogar dort hingetrieben, wo er schließlich landete? Dorothea spürte, wie ihr der vertraute brennende Schmerz erst die Brust und dann die Kehle hochstieg. Sie nahm noch einen Schluck von der Bloody Mary.
    Den Gedanken an ihre Mitschuld hatte sie all die Jahre zu vermeiden versucht. Damals schien man ihr zu glauben, als sie »Aber ich wußte doch nicht…« stotterte, mit hochrotem Kopf. Als sie behauptete, nicht geahnt zu haben, mit welchem Gedanken er sich heimlich trug. Als sie versicherte, nie mit ihm darüber geredet zu haben.
    Das stimmte ja auch alles. Sie hatten schon lange nicht mehr miteinander geredet.
    »Du hältst mich wohl für blöd?« hatte er eines Tages gebrüllt, als sie ihn ungeduldig korrigierte – wegen irgendeiner Kleinigkeit. Deutsch war nicht seine Stärke.
    Normalerweise hätte sie ihn beschwichtigt.
    »Ja«, sagte sie diesmal.
    Ab da begann das Spiel. Sie fuhr ihm in aller Öffentlichkeit über den Mund. Er rächte sich mit der Bemerkung, daß ihr Hirn größer als ihr Busen sei. Sie kritisierte ihn, sie nörgelte an seiner Kleidung herum. Er nannte sie spießig.
    Sie demütigte ihn. Er beleidigte sie.
    Sie begann, sich von ihm abzusetzen. Heute erkannte sie die Zeichen – es war wohl typisch für Aufsteiger, auf denen herumzutrampeln, mit denen sie eben noch innig im Bunde waren. Auf diese Weise hatte sie mehr als einen hinter sich gelassen. Bis sie sich nicht mehr abgab mit den Verlierern.
    Nach einem erbitterten Streit war er mitten in der Nacht abgehauen und nicht wieder aufgetaucht. Daß er sie als Karrieristin und Hure bezeichnet hatte, gab ihr das moralische Recht, eher Genugtuung als Sorge um ihn zu empfinden.
    Wäre es nur so geblieben. Wärst du nur für immer aus meinem Leben verschwunden, Kleiner, dachte sie. Du da, ich hier.
    Aber er war

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