Die Fotografin
Fotoapparat in den Rucksack und machte sich auf die Wanderung, die sie wegen der Hitze aufgeschoben hatte. Wer weiß, vielleicht sah sie den Brandherd und die versammelten Brandursachenforscher auf dem Weg durch den Bois de Peyrebelle. Dann hätte sie morgen beim Bäcker auch was zu erzählen.
Nach einem Kilometer Landstraße bog sie auf einen Wanderweg ab. In wenigen Minuten befand sie sich in einer anderen Welt. Eben noch war sie an verdorrten Wiesen und Bäumen mit mattem Laubwerk vorbeigekommen. Jetzt führte sie der Weg immer tiefer hinein in einen grünen, kühlen Dschungel. Krüppeleichen säumten den schmaler werdenden Pfad, rechter Hand türmten sich Felsplatten aufeinander wie die zarten Schichten und Wülste eines Baumkuchens. Auf dem hellen, ausgewaschenen Kalkstein breiteten sich rote und schwarze Flechten aus, in den Felsritzen wuchsen Farne und winzige purpurfarbene Blumen auf schlanken Stengeln, die aus einem grünen Blattkelch herausstiegen wie die Venus aus der Muschel. Höhlen taten sich auf rechts und links des Weges, einige niedrig, andere so hoch, daß man hätte hineingehen können.
Wenn man sich traute. Alexa traute sich nicht. Wer weiß, was sie dort erwartete. Ada Silbermann wäre nicht so feige gewesen, dachte sie, ein bißchen beschämt.
Der Weg schien immer weiter abwärts zu führen. Aber vielleicht waren es auch die Felsschichten rechts und links, die sich immer höher auftürmten. Am hellichten Tag herrschte hier tiefer, feuchter Schatten, das Reich der Moose und Farne. Sie strich mit der Hand über einen zarten Moosteppich, tupfte mit dem kleinen Finger den Tautropfen aus dem Blattkelch der Purpurblume und horchte auf einen Laut in der dämmrigen Stille.
Endlich wurden die Felsmauern wieder niedriger, unter den Krüppeleichen wuchsen Wacholder und Thymian, der Weg stieg an. Alexa war außer Atem, als sie die letzten Meter hochgeklettert war und nun auf einem Felsplateau stand, auf einer weißen, weiten Ebene aus ausgewaschenem Stein, zerklüftet und gespalten. Zwischen den Steininseln schien es tief hinunterzugehen. Sie stieg vorsichtig über die Abgründe. Mit einem Mal fühlte sie sich in atemberaubender Höhe, wie auf der Spitze eines Felsdoms. Ihr wurde schwindelig, sie mußte sich setzen.
Sie schlüpfte aus den Gurten des Rucksacks und nahm einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche. Dann holte sie die Kamera heraus. Sie versuchte, die ungeheure Weite und die Höhe des Felsplateaus zugleich zu erfassen – das war natürlich unmöglich. Dann begann sie, sich die Gewächse näher heranzuholen, die in den Kerben und Buchten und Spalten der Felsen wucherten.
Das Moos sah aus wie ein vorsintflutlicher Wald, fehlten nur noch die Dinosaurier. Der schrundige Fels wirkte wie die Marsoberfläche und die roten Flechten entpuppten sich als kristalline Strukturen. Wie gefärbte Schneeflocken, dachte sie und drückte auf den Auslöser.
Es klickte trocken, als der Verschluß sich öffnete und wieder schloß. Das Glücksgefühl, das dieses Geräusch in ihr auslöste, überraschte sie. Fast andächtig transportierte sie den Film weiter. Sie drückte wieder auf den Auslöser. Die Kamera brachte die Welt auf ein handhabbares Format, sorgte für Nähe, ohne daß man den Dingen zu nah kommen mußte. Es war, als ob die Leica eine Tür wäre, durch die sie ins Freie gehen konnte.
Alexa ließ den Fotoapparat sinken und lehnte sich zurück. Ein Falke stieg auf und stand mit rüttelnden Flügeln im blassen Himmel über ihr. Sie schloß die Augen und lauschte in sich hinein. Kein Gedanke drängte sich vor, keine Ängste stiegen hoch, keine Bilder türmten sich auf. Was für ein wunderbares, seltsames, unheimliches Gefühl.
Nach einer Weile stand sie auf und ging weiter. Der Weg führte schier endlos über das weiße Felsenmeer. Die Sonne kämpfte sich durch den Dunst, langsam wurde es warm und schwül. Und dann hörte sie es, ein fernes Rauschen, das mit jedem Schritt lauter wurde. Sie folgte dem Geräusch, bis sich vor ihr ein Spalt auftat. Sie ging auf die Knie und versuchte, hinunterzuspähen. Die Kluft war tief, feuchte Kühle wehte zu ihr hoch. Und dann sah sie unten, im Schatten, weiße Schaumkronen. Ein Fluß, der nach ein paar Metern wieder im Dunkel des Felsens verschwand.
Sie setzte sich an den Rand der Kluft und holte Tomaten und Käse aus dem Rucksack. Man konnte im Bois de Peyrebelle seinen Frieden finden – auch den ewigen. Man konnte hier spurlos verschwinden. Wer in eine der
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