Die Fotografin
Felsspalten stolperte oder gar in die tiefe Kluft vor ihr, würde nur durch Zufall jemals wiederentdeckt. Flüchtig dachte sie an die mumifizierten Hunde und Schafe, die man in unterirdischen Höhlen gefunden hatte und die jetzt im Museum standen.
Und wer untertauchen wollte, um irgendwo anders ein neues Leben zu beginnen, der konnte sich ebenfalls keinen besseren Ausgangsort aussuchen. Und wem das Leben nicht mehr lebenswert schien… Alexa spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Was wußte sie schon über Ada Silbermann, Jüdin, Fotografin, verheiratet? Nichts. Und dennoch war sie sich in diesem Moment sicher, daß Ada nicht lebensmüde gewesen war.
Und wenn sie unfreiwillig in einen der vielen Schächte gefallen wäre? Wenn sie noch gelebt hätte danach, tagelang, wochenlang? Ein verebbendes Leben. Alexa fühlte plötzlich ein tiefes Bedauern in sich hochsteigen. Auch sie würde niemand finden. Womöglich würde noch nicht einmal jemand nach ihr suchen.
Denkst du manchmal an mich, Ben? Kennst du mich noch? Und erinnerst du dich? An die Abende, an denen wir keine Worte brauchten, weil in der Umarmung schon alles gesagt war? Sie wischte sich die Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln. Jetzt bloß nicht heulen, dachte sie und biß in die Tomate, die in ihrer Hand ganz warm geworden war. Nicht über romantische Illusionen. Er hat dich nicht getäuscht. Du hast an den wortlosen Einklang geglaubt. Du allein.
Und außerdem, fiel ihr wieder ein, war Ada nicht in den Bois de Peyrebelle gegangen, an dem Tag, an dem man sie zum letzten Mal sah. Am Tag, an dem sie ihren Rucksack zu Hause ließ. Also mußte man auch nicht fürchten, daß sie hier irgendwo gestorben war – womöglich lebendig begraben…
Sie packte alles wieder in den Rucksack, sprang auf und ging weiter. Schon nach wenigen Schritten war das Rauschen verebbt. Der Weg führte durch eine weitere Felsschlucht und senkte sich schließlich nach unten. Dann machte er eine Kurve. Von hier aus ging der Blick hinunter ins Tal, zu dürren Weiden und grauen Schafen. Am Wegesrand wuchsen Thymian und Buchs, Oliven und Wacholderbäume zwischen Hügeln aus kleinen weißen Steinen. Daneben sah man große Steinplatten, die eine Kammer, eine Art Gruft bildeten. Ein Dolmen, sagte ihr die Erinnerung, eine der prähistorischen Grabstätten, von denen es hier viele gab.
Nach der nächsten Wegbiegung sah sie den Fluß, sah einen Bauernhof, Kastanienbäume, Kühe auf der Weide und schließlich eine Brücke, auf der ein Polizeiwagen stand. Und davor ein Wagen der Ambulanz. Alexa blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und schnupperte. Obwohl der Wind aus der anderen Richtung kam, war der Brandgeruch unverkennbar. Dort unten mußte der Brandherd gewesen sein. Bedeutete der Krankenwagen, daß man jemanden gefunden hatte? Einen Verletzten, einen Toten?
Als sie ein paar Schritte nach rechts trat, um besser zu sehen, wäre sie fast gestolpert. Sie war nicht allein. Weit unter ihr stand ein Mann am Wegesrand, der ebenfalls wie gebannt nach vorne starrte. Er kauerte hinter einem Felsblock, als ob er nicht gesehen werden wollte. Sie nahm ihn ins Visier. Als er ihr sein Profil zuwandte, drückte sie ab. Es war Philipp Persson.
Was machte er hier? Sie versuchte, mit der Kamera zu erkennen, was er zu beobachten schien. Kurz bevor der Weg auf die Brücke mündete, stand eine halb eingefallene Hütte, daneben dichtes Buschwerk, das ihr den Blick versperrte. Als sie die Leica wieder zu Persson schwenkte, guckte er suchend um sich. Instinktiv versteckte sie sich hinter einem hohen Wacholderbusch. Hatte er etwas gemerkt?
Und wenn es so wäre? Alexa ärgerte sich mit einem Mal über ihre Feigheit, richtete sich auf und trat wieder auf den Weg. Persson war verschwunden – auch Polizeiauto und Ambulanz waren abgefahren. Ob er gemerkt hatte, daß sie ihn fotografierte? Sie drehte sich um und lief den Weg wieder hoch. Niemand begegnete ihr auf dem Rückweg.
Alexa war verschwitzt, müde, hungrig und auf eine unerklärliche Weise glücklich, als sie nach Beaulieu zurückkehrte. Vor dem Maison de la Presse, wo sie sich eine Wanderkarte kaufen wollte, parkte ein Polizeiauto. Ein flüchtiger Blick durch die Fensterscheibe in den Laden des Monsieur Durand ließ eine mittlere Volksversammlung erkennen. Sie zögerte. Dann ging sie weiter.
Auch vor und im Café von Monsieur André redeten Männer mit ausgebreiteten Armen und geballten Fäusten aufeinander ein. Alexa machte ein Foto von den drei
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