Die Fotografin
alten Herren, die, schräg gegenüber vom Café, vor der Kirche saßen – zwei auf der Mauer an der großen Freitreppe, der dritte auf der Bank gegenüber. Keiner bemerkte sie, was sie, für einen kurzen Moment erschrocken über ihren Mut, beruhigte. Noch immer kam ihr das Fotografieren von Menschen wie ein gefährlicher Zauber vor.
Als sie nach Hause kam, saß Crespin vor dem Tor, neben sich Ruby, der die Schnauze auf die Pfoten gelegt hatte und matt zu ihr hochblinzelte. Der alte Herr lächelte in die Linse, als sie die Kamera hob. Sie drückte auf den Auslöser. Nichts tat sich.
»Du wirst den Film verschossen haben«, sagte Crespin. »Wie Ada.«
Alexa hockte sich neben ihn und erzählte von ihrem Ausflug.
»Du warst im Bois de Peyrebelle?« Crespin richtete sich auf. Sie sah ihn fragend an. Dann ließ er sich zurücksinken.
»Es ist gefährlich dort. Du hättest nicht allein gehen sollen.«
»Aber Monsieur…« Sie legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. Ihr waren während des Heimwegs all die Geschichten durch den Kopf gegangen – von den jähen Abgründen und den hinter Brombeerranken getarnten Kaminen, Les puits du mort genannt, durch die man hinabstürzen konnte in die Welt, die dort unter der Oberfläche lag, eine Welt, die das Wasser im Laufe der Jahrtausende aus dem Kalkstein gewaschen hatte, das Reich der Grotten und unterirdischen Flußlandschaften.
Seit einiger Zeit gab es staatlich bestellte Expeditionsteams, die das unterirdische Reich vermessen sollten. Grotten so groß wie Kathedralen wurden dort unten vermutet – und Zeichen früher menschlicher Zivilisation. Erst vor zwei Jahren war eine Höhle entdeckt worden, in der es Wandmalereien gab, die angeblich über 30 000 Jahre alt waren.
Crespin war noch immer ernst. »Die Ambulanz ist hier vorbeigefahren. Und die Spurenermittler von der Polizei. Sie müssen etwas gefunden haben.«
»Einen Verletzten? Wer ist es?«
Jemand wie du, sagte eine innere Stimme spitz, der mit dem Fotoapparat vor dem Schädel wie Hans-Guck-in-die-Luft durch die Gegend läuft, ohne zu sehen, wo er hintritt.
»Oder einen Toten«, sagte Crespin.
»Ein Opfer des Brandes? Der Brandstifter? Ein Selbstmörder?« Ihr fiel Persson ein. Hatte der einen Grund gehabt, sich auf die Lauer zu legen, oder war er nur neugierig, wie alle im Dorf, Alexa eingeschlossen?
»Die Brandstelle ist nicht weit vom Ort entfernt, an dem man damals Alphonse gefunden hat.« Crespins Augen blickten ins Weite, als ob sie in die Vergangenheit sehen könnten. »Seit Tausenden von Jahren haben sich die Menschen im Bois de Peyrebelle versteckt. Priester und Hugenotten, Rebellen, Diebe, Mörder, verfolgte Juden, Mitglieder der Resistance. Und was ist nicht alles in den Höhlen und Grotten gefunden worden, Diebes und Schmuggelgut, Waffen, Sprengstoff.«
Hatte Ada Silbermann etwas gefunden auf ihren Expeditionen durch den Bois de Peyrebelle, etwas, das ihr gefährlich geworden war? Alexa dachte an die Aufnahmen, die Ada mit der Leica gemacht hatte. Ob man darauf etwas erkennen konnte? Sie mußte den Film entwickeln lassen.
» Allez «, sagte Crespin und erhob sich mit würdevoller Sorgfalt. Der Hund rappelte sich mühsam auf. »Vergiß nicht: Es ist gefährlich, Alexa.«
Sie nickte brav. Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an und grinste schließlich.
»Mach, was du willst. Ich geh’ auf einen kleinen Schwarzen zu André.«
Alexa sah ihm nach. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, sich ihm anzuschließen. Das Café war Männersache. Draußen durften die Frauen sitzen, im Sommer. Aber drinnen? Einmal hatte sie sich hineingetraut, nach Ladenschluß, als ihr die Streichhölzer ausgegangen waren. Erst hatten alle mißbilligend hochgeguckt, dann hatten sie so getan, als ob sie nicht da wäre, die Dorfveteranen, die Karten spielten, während der Fernseher lief, klatschten und tratschten und Pastis tranken. Sie betrachtete die Leica. Sie brauchte einen neuen Film. Aber wo legte man ihn ein? Und wie? Und wie lange dauerte es, bis der alte Film entwickelt war? Alexa zögerte. Sie hatte keine Lust, vor aller Augen bei Durand einzulaufen.
Kurz entschlossen machte sie kehrt, setzte sich ins Auto und fuhr nach St. Julien.
Im Fotoladen bewunderte man die Kamera, zeigte ihr, wie man Filme einlegte, und versprach, den Film bis morgen mittag zu entwikkeln. In der Papeterie nebenan kaufte sie eine Wanderkarte und eine deutsche Zeitung. Unschlüssig stand sie vor einem Laden, in dessen Schaufenster
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