Die Fotografin
Kaschmirpullover zuoberst in die elegante Reisetasche, der, wie der Rest ihrer Garderobe, so überhaupt nicht das war, was man hier brauchte – die Gegend verlangte nach Gummistiefeln und Regenjacke. Die Halbschuhe, die sie gestern abend getragen hatte, waren noch immer klatschnaß.
In ihrem Kopf spielte das Orchester die Takte aus dem Mittelteil des zweiten Satzes des 4. Klavierkonzerts von Beethoven. Das hatte sie gestern auf die Spur gebracht – eine Leuchtrakete auf hoher See. Die Musik durchströmte das ganze Dorf. Beethoven, äußerste Kraft, egal, was die Nachbarn dachten. Er hätte ihr nicht deutlicher zeigen können, wo er zu finden war. Sie hatte ihn schließlich sogar gesehen, wie er mitdirigierte, oben auf einem Balkon im Erker eines schmalen, hohen Steinhauses, die Augen geschlossen, den Kopf zurückgelegt, mit diesem seligen Lächeln, das ihr noch immer vertraut war.
Sie hatte das Haus umkreist wie ein einsamer Wolf das Lagerfeuer. Die Wahrheit war, daß sie im Grunde nicht wußte, was sie von ihm wollte. Er sollte sie in Ruhe lassen, natürlich. Das war einfach. Aber das hätte sie ihm auch schreiben können. Garniert mit ein paar Drohgebärden – rechtliche Konsequenzen und so weiter.
Nur: Womit konnte man einem wie ihm noch drohen? Mit den deutschen Ermittlungsbehörden? Schön – und wie sollte sie denen erklären, woher sie seinen Aufenthaltsort kannte, ohne ihnen ein Bündel Briefe in die Hand zu drücken, aus denen man allerhand schließen konnte, vor allem, daß sie schon länger wußte, wo er sich versteckt hielt?
Dorothea seufzte und faltete das dunkelblaue Seidenjackett akkurat zusammen. Sie mußte gestern abend das Dorf mindestens zweimal durchquert und einmal umrundet haben. Und dann kam der Regen.
Regen? Wassermassen stürzten vom Himmel.
Sie hatte sich in die Kirche geflüchtet, die oben auf dem Scheitelpunkt des Dorfes stand. Wie es Verzweifelte und Gesetzesbrecher seit jeher tun, hatte sie blödsinnigerweise noch gedacht.
Im Inneren empfing sie Dämmerlicht, bis ein Blitz Farbkaskaden durch die beiden bunt verglasten Fenster an der Stirnseite schickte, wo sie die Umrisse des Altars wahrzunehmen glaubte. Als sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah sie über sich eine bizarre Skulptur, ein grünes, gräßliches Ungeheuer mit triefenden Lefzen und langen spitzen Krallen, über dem mit mildem Lächeln ein geflügelter Held schwebte, einen langen Stab in der Hand. Der heilige Georg und der Drache. Sie ließ den Blick an die Decke des Gewölbes aus rotem Backstein wandern. Romanisch. Pilaster und Kapitelle mit Dämonenköpfen. Ein schmales Mittelschiff, zwei Seitenschiffe. Der Gekreuzigte und die Madonna. Sie ging den Mittelgang ein paar Schritte entlang. Das Geräusch ihrer Absätze auf den Steinplatten hallte durch den Raum.
Die Luft war frisch. Es roch nach Geschichte – nicht nach Weihrauch oder nach Andächtigen, nicht nach Kerzen und noch nicht einmal nach den Blumen, die rechts vor einer bunten Marienskulptur und in der Mitte vor dem Altar standen. Wer wohl die Kirche mit Blumen versorgte?
Sie setzte sich auf eine der Kirchenbänke. Es blitzte und donnerte unaufhörlich, der Regen rauschte nur so herab, weshalb sie es fast überhört hätte. Und als sie es endlich hörte, konnte sie nicht sagen, woher es kam. Sie sah niemanden, nicht auf den Kirchenbänken, nicht in den Seitenschiffen vor den beiden Altären, nicht vorne am Hochaltar. Doch als der Regen eine Pause machte, hörte sie mit einem Mal nichts anderes mehr. Das Echo vervielfachte und verstärkte die Frauenstimme, die in der Mitte der Kirche zu schweben schien. Sie sprach Französisch, mehr war nicht zu verstehen. Obwohl Dorothea die Worte nicht erkannte, war ihr der Rhythmus vertraut. Jemand betete. Zuerst hatte sie an ein Gebet vom Band gedacht. Machte man das nicht heute so in den Kirchen? Dann unterbrach ein lautes Husten die Litanei. Da betete jemand leibhaftig, seufzte plötzlich tief auf, fast war es ein Schluchzen, versuchte sich zu fassen, stolperte wieder voran. Dorothea bildete sich ein, eine Männerstimme zu hören. Die Frauenstimme schwankte, schien zu antworten und schwang endlich wieder ein in den Rhythmus des Gebets.
Dorothea glaubte an nichts außer an ihren eigenen Willen. Trotzdem erfaßte sie in diesem Moment eine seltsame Scheu. War es eine Beichte, der sie lauschte, ohne es zu wollen? War, was sie hörte, eine Totenklage? Wie unangenehm, wenn man sie hier entdeckte – eine
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