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Die Fotografin

Die Fotografin

Titel: Die Fotografin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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alles andere als naheliegend waren. Niemand kannte sie hier, niemand würde Zusammenhänge herstellen.
    Aber wenn dich einer gesehen hat gestern abend? fragte die ängstlichere der beiden Seelen in ihrer Brust.
    Quatsch. Bei dem Wetter?
    Doch da war jemand gewesen, kurz vor dem großen Regen. Sie erinnerte sich an die weit aufgerissenen braunen Augen, die dunklen Locken, die wie elektrisiert um das blasse Gesicht standen, die schmale Figur, die weißen Finger. Die junge Frau war hübsch gewesen – nein, verbesserte Dorothee, sie war schön -; in einem Alter, in diesem begnadeten Alter, in dem noch alles möglich war, alles offen stand, die Zukunft schwerer wog als das bißchen Vergangenheit, das man schon hinter sich gebracht hatte…
    Dann hatte sich die Gestalt umgedreht und war verschwunden. Dorothea hatte einen Moment verloren an der Straßenecke gestanden und zugehört, wie schwere Regentropfen auf dem Pflaster aufschlugen. Der Gedanke machte sie unendlich traurig, wie schnell das verspielt war, die Zukunft. Verschenkt – für einen Moment angemaßter Größe. Martin mußte etwa so alt gewesen sein wie die junge Frau, als sich das Tor zur Zukunft vor ihm schloß.
    Ein Leben ohne Zukunft, hörte sie Dorothee flüstern. Kannst du dir das vorstellen? Das ist wie der Mann ohne Schatten…
    Sie legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Das Problem war nicht, ob sie blieb oder ging. Sie hatte im Grunde keine Wahl. Sie steckte fest. Es gab kein Vor und kein Zurück.
    Wie damals, auf der Hochzeitsreise mit Arnold in Barcelona.
    »Komm, Dorle, das macht doch einen Riesenspaß!« Arnold v. Plato hatte eine kindliche Freude daran, sie mit dem verhaßten Spitznamen anzureden. Sie betrachtete die Schlange von Menschen, die vor der Tür zum Turm der Sagrada Familia stand, und versuchte mit einem flauen Gefühl im Magen abzuschätzen, wie hoch er wohl war. »Das schaffst du! Und herunterfallen kannst du auch nicht!«
    Sie machte sich nicht die Mühe, ihm zu erklären, daß der unangenehme Zustand, den man Vertigo nannte, nichts mit einer wirklichen Gefahr zu tun hatte, sondern mit dem Vorstellungsvermögen. Da es ihm genau daran fehlte, war es müßig, auf sein Verständnis zu hoffen.
    Bis zur 112. Stufe der schmalen Treppe ging alles gut. »Na siehst du.« Sie hörte ihn hinter sich schnaufen. »Du bist ja schneller als erlaubt.« Um so schneller ist es vorbei, dachte sie und zählte weiter. Und dann, von einer Sekunde auf die andere, ging gar nichts mehr. Sie klammerte sich an die Wand gegenüber einem schießschartenschmalen Fenster, schloß die Augen und konzentrierte sich darauf, sich nicht zu übergeben.
    »Dorothea, verdammt, wir halten alle auf«, flüsterte Arnold hinter ihr. Sie schüttelte den Kopf wie ein störrischer Esel. »Dann geh wenigstens zurück.« Er verstand nicht. Sie konnte einfach nicht. Sie konnte nicht hoch und nicht runter. Erst nach einer quälenden halben Stunde gelang es ihr, zurückzukriechen, immer an der Wand lang, wie ein Kind, das im Keller Angst hat. Ihm war die Sache entsetzlich peinlich gewesen.
    Dorothea ertappte sich dabei, wie sie den Finger auf die Nasenwurzel legte, so, als ob sie eine heruntergerutschte Brille wieder hochschieben wollte. Ihr Büro in Frankfurt war weiter entfernt als die tausend Kilometer, die zwischen hier und dort lagen. Die erfolgreiche Fondsmanagerin Dorothea v. Plato kam ihr plötzlich vor wie eine Kunstfigur aus einem Frauenroman.
    Sie steckte fest. Und sie wußte nicht, wie sie sich befreien sollte.
    Erst, als unten längst kein Frühstück mehr serviert wurde, nahm sie Strohhut und Sonnenbrille und ein Wirtschaftsmagazin und ging hinunter zur Terrasse. Es würde geschehen, was geschehen mußte.

3
    D ie Kirchturmuhr schlug drei, als Bremer die Place des Platanes überquerte. Es roch nach Rosen und Mittagessen, ein einsamer Vogel gab einsilbige Geräusche von sich. Das ganze Dorf schien zu verdauen.
    Die Terrasse vor dem Hotel lag im Schatten der Platanen. Ein Sonnenstrahl, der sich durchs Laubdach geschmuggelt hatte, ließ Karens Haare kupferrot aufleuchten. Sie hatte die Füße auf einen der Stühle gelegt und las in einer Zeitschrift. Als er vor ihr stand, sah sie auf und blinzelte ihn an.
    »War ich womöglich ein bißchen betrunken gestern abend?«
    »Also wenn du es genau wissen willst…«
    »So betrunken, daß du mir den halben Tag lang aus dem Weg gehen mußtest?« Sie brachte es fertig, sowohl gekränkt als auch unschuldig und reumütig

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