Die Fotografin
Zuhörerin wider Willen. Sie stand auf, zog die Schuhe aus und ging auf Strümpfen zum Ausgang. Als sie die schwere Tür aufstemmte, setzte der Regen mit Gewalt ein, heftiger noch als zuvor. Hastig schlüpfte sie wieder in die Schuhe und drückte sich in den Kircheneingang. Vor der Tür lagen Herzchen aus weißem Papier, an denen der Regen zupfte, bis sie wegzuschwimmen begannen.
Keine Ahnung, wie lange sie dort gestanden hatte. Das immer ferner klingende Donnergrollen wurde plötzlich übertönt von einem anderen, nicht weniger dramatischen Ton. Triumphierend, so, als ob eine Sünderin den Weg heim zu Gott gefunden hätte, begannen über ihr die Glocken zu läuten, ein schwingender, jubelnder Dreiklang, der schließlich verebbte, als ob sich ein Engel einer Glocke nach der anderen mit seinen Flügeln entgegengestemmt hätte.
Irritiert über die Rührung, die sie empfand, zog sie die Jacke enger um sich, senkte den Kopf und lief hinaus in den nur wenig sanfter gewordenen Regen. Wenigstens ein Handtuch für die Haare konnte Martin ihr leihen, und wenn er sonst nichts zu bieten hatte. Ihr war wie eine göttliche Eingebung der schlichte Gedanke erschienen, ihn einfach erstmal anzuhören, bevor sie weitere Mutmaßungen darüber anstellte, was er wollen und welche Gefahr von ihm ausgehen könnte.
Dorothea seufzte, legte den leichten Sommermantel auf die Reisetasche und setzte sich daneben. Es war wie im Film gewesen, wie in einer der alten deutschen Edgar-Wallace-Klamotten, die Szene gestern abend, als sie, in einer schlechtbeleuchteten Gasse, klatschnaß vor Martins Haus stand. Auf die Klingel reagierte niemand, schließlich ging sie hinein, die Tür war unverschlossen gewesen. Auf ihr Rufen antwortete auch keiner. Im Flur war es dunkel, es roch nach kaltem Zigarettenrauch. Daß in dem, was sie für das Schlafzimmer hielt, ein halbgepackter Koffer lag, beschleunigte ihren Herzschlag. Er hatte also wirklich vor, zurückzukehren. Im Raum am Ende des langen Flurs, einer Art Wohnküche, war ebenfalls niemand zu sehen oder zu hören. Wieder hatte sie gerufen, nicht nur seinen Namen, sondern auch »Bonsoir!« und »Ist da jemand?« Vielleicht hatte sie sich geirrt und war im falschen Haus gelandet.
Als sie den Raum betrat, in den eine Flügeltür rechts von der Wohnküche führte, wußte sie, daß sie richtig war. Die Schallplattensammlung, der Sessel mit dem halbleeren Glas, das Poster von Che – alles erinnerte sie fast schmerzhaft an alte Zeiten. Wie sie neben ihm im Bett gelegen, Mahlers 4. Sinfonie gehört, eine Zigarette geraucht und zugesehen hatte, wie die Rauchwölkchen Commandante Che Guevaras Stirn bekränzten… Neben dem Bett lag damals immer eine kleine rote Mao-Bibel mit abwaschbarem Einband. Sie hatte ihm einmal daraus vorgelesen und geprustet vor Lachen. Beleidigt hatte er ihr die Worte des Großen Vorsitzenden aus der Hand genommen.
Auch hier war niemand zu sehen. Nur der Geruch fiel ihr auf, es war nicht Zigarettenrauch, nein, es roch verqualmt, so, wie es riecht, wenn man einen Feuerwerkskörper abbrennt. Dorothea war mit ein paar Schritten beim Fenster, riß es auf und atmete die kühle feuchte Luft tief ein. Und plötzlich hörte sie die Stimme – seine Stimme. Vor Schreck fiel ihr die Vase, die auf dem Fenstersims gestanden hatte, aus der Hand.
Er klang verträumt, so, als hätte sie ihn aus einem tiefen Schlaf gerissen. Endlich sah sie ihn. Sein Gesicht war blaß, eine Locke kringelte sich über seine Stirn. Er hatte die linke Hand gehoben, so, als ob er winken wollte. Und dann lächelte er verklärt.
5
A ls Bremer zurückkehrte in die Auberge du Sud, tobte eine Schar von Kindern über den Spielplatz im Garten. Fast hätte Marc Dutoit ihn umgerannt, der mit einem vollbepackten Tablett aus dem Restaurant sprintete. »Cola!« krähte ein kleines Mädchen an einem der Tische und ein Mann in Motorradfahrerkluft winkte herrisch.
Im Restaurant schnitt Madame Dutoit Kuchen vom Blech, der betörend duftete. Der rote Kater saß vor dem Tresen und sah hingebungsvoll zu ihr auf. Bremer bestellte ein Stück und setzte sich dann draußen an einen der Tische.
Vom Steinofen hinter dem Haus wehte der Geruch von Holzfeuer herüber. Seltsamerweise lieben die Franzosen italienische Pizza – oder das, was sie dafür halten. Dutoit schleppte ein Tablett mit riesigen Eisbechern vorbei. Und dann schwebte die alte Madame heran und stellte mit konspirativem Lächeln einen Teller mit zwei Stück Kuchen vor Bremer
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