Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
bis mir die Leber platzte. Seine Frau glänzte auf dem Höhepunkt ihres Alters in makelloser Blondheit. Sie häufte mit klirrendem Schmuck und mit anmutigen Gesten ihrer rotlackierten Nägel gleichgültig Zeitschriften zu schönen Stapeln auf. Er hatte mich wiedererkannt und nutzte es aus. Er hatte in mir das Kind der 1. Linken Revolution wiedererkannt, das sich weigert, etwas zu sagen und den Dingen ins Gesicht zu sehen. Er hatte in mir jemanden erkannt, der sich darüber freut, anonym zu bleiben, der gewisse Worte aus Angst vor der Gewalt nicht mehr benutzt, der aus Angst, sich zu beschmutzen, nicht mehr redet und daher den anderen schutzlos ausgeliefert ist. Ich konnte ihm nicht widersprechen, wenn ich nicht zugeben wollte, dass ich verstanden hatte, was er gesagt hatte. Und dann hätte schon mein erstes Wort gezeigt, dass ich das Gleiche dachte wie er. Er lachte über die Falle, die er mir gestellt hatte, und rauchte gekonnt seine lange dicke Zigarre. Er ließ mich zappeln.
»Wenn wir die Sache rechtzeitig in die Hand genommen hätten, dann brauchten wir nicht das mit anzusehen, was wir uns da mit ansehen müssen. Wenn wir mit der Faust auf den Tisch geschlagen hätten, als nur ein paar von ihnen aufmuckten, wenn wir damals ordentlich zugeschlagen hätten, aber so richtig, auf die, die den Kopf in die Höhe streckten, dann hätten wir jetzt Ruhe. Dann hätten wir zehn Jahre lang Ruhe.«
Ach, nun geht das schon wieder los! Die koloniale Fäulnis kehrt in denselben Worten wieder. »Zehn Jahre lang Ruhe«, hatte er in meinem Beisein gesagt. Hier wie dort. Und das »sie«! Alle Franzosen verwenden das mit heimlichem Einverständnis. Ein diskretes Einvernehmen vereint die Franzosen, die begreifen, ohne dass genau gesagt wird, auf wen sich das »sie« bezieht. Das wird nicht weiter ausgeführt. Das zu begreifen, lässt einen zu der Gruppe jener gehören, die es begreifen. Das »sie« zu begreifen, macht sie zu Komplizen. Manche bemühen sich, es nicht auszusprechen und sogar es nicht zu verstehen. Aber vergeblich; man kann nicht umhin zu begreifen, was die Sprache sagt. Die Sprache umgibt uns, und wir verstehen sie alle. Die Sprache versteht uns; und sie sagt, was wir sind.
Woher weiß man, dass hart zu sein beruhigt? Woher weiß man, dass man jemandem bloß rechts und links eine herunterhauen muss, um seine Ruhe zu haben? Woher stammt nur diese einfache Idee, die so einfach ist, dass sie geradezu spontan wirkt, wenn nicht von dort? Und was mit »dort« gemeint ist, braucht man nicht zu präzisieren: Jeder Franzose weiß genau, wo das ist.
Ohrfeigen sorgen dafür, dass man seine Ruhe wiederfindet; diese Idee ist so einfach, dass sie in allen Familien verbreitet ist. Man haut den Kindern eine runter, damit sie sich beruhigen, man erhebt die Stimme, blickt sie tadelnd an, und das scheint ein bisschen zu wirken. Man macht weiter. In der geschlossenen Welt der Familien zieht das kaum Folgen nach sich, denn es handelt sich zumeist um ein Maskentheater mit Schreien, mit nie wahrgemachten Drohungen und gestikulierenden Armen, aber wenn man das auf die offene Welt der Erwachsenen überträgt, entsteht daraus furchtbare Gewalt. Woher kommt die Idee, dass Ohrfeigen dafür sorgen, dass man die erwünschte Ruhe wiederfindet, wenn nicht von dort, aus der kolonialen Illegalität, aus dem kolonialen Infantilismus?
Woher kommt der Glaube an die tugendhafte Wirkung der Ohrfeige? Woher kommt die Idee, dass »sie aufmucken«? Und dass »man es ihnen zeigen muss«, damit sie sich beruhigen. Woher, wenn nicht von »dort«? Von dem Gefühl, belagert zu werden, das den Algerienfranzosen nachts keine Ruhe ließ. Von ihren amerikanischen Träumen, jungfräulichen Boden, der von Wilden durchstreift wird, urbar zu machen. Sie träumten davon, diese Stärke zu besitzen. Die Stärke schien ihnen die einfachste Lösung zu sein, die Stärke scheint immer die einfachste Lösung zu sein. Jeder kann sie sich vorstellen, da jeder einmal ein Kind war. Die riesigen Erwachsenen hielten uns mit ihrer unvorstellbaren Stärke in Schach. Sie hoben die Hand, und wir fürchteten sie. Wir senkten den Kopf, weil wir glaubten, die Ordnung hänge von der Stärke ab. Diese untergegangene Welt besteht noch weiter fort, flottiert durch die Sprachstruktur, flößt uns, ohne dass wir sie darum gebeten haben, gewisse Wortverbindungen ein, die wir nicht zu kennen glaubten.
Endlich gelang es mir, mich abzuwenden. Ich ging nach draußen und machte mich davon. Ich
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