Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
war. »Unter sich.« Wie immer; wie zuvor. Hier wie dort.
In dem allgemeinen Unbehagen, in der allgemeinen Anspannung, in der allgemeinen Gewalt taucht ein umherirrendes Gespenst auf, das man nicht definieren kann. Immer gegenwärtig, nie zu weit entfernt, erweckt es den vorteilhaften Eindruck, es gäbe für alles eine Erklärung. Der Begriff Rasse hat in Frankreich zwar einen Inhalt, aber keine Definition, man weiß nichts darüber zu sagen, aber es lässt sich jemandem ansehen. Das weiß jeder. Der Begriff Rasse umreißt eine wirksame Identität, die reale Handlungen auslöst, aber man weiß nicht, welchen Namen man jenen geben soll, deren Anwesenheit alles erklären würde. Keiner der Namen, den man ihnen gibt, ist adäquat, und man weiß sofort bei jedem dieser Namen, wer sie so genannt hat und welches Ziel jene verfolgen, die sie ihnen gegeben haben.
Es gibt keine Menschenrassen, dennoch deckt dieser Begriff eine wirksame Identität ab. In der klassenlosen Gesellschaft, der molekularen Gesellschaft, die Unruhen ausgesetzt ist, jeder gegen jeden, ist die Rasse eine sichtbare Idee, die eine Kontrolle erlaubt. Die mit Identität verwechselte Ähnlichkeit erlaubt die Aufrechterhaltung der Ordnung. Hier wie dort. Dort haben wir eine perfekte Kontrolle eingeführt. Ich kann hier durchaus »wir« sagen, denn es handelte sich um den französischen Erfindungsgeist. Anderswo, in der friedlichen Welt, wurden John von Neumanns abstrakte Vorstellungen weiterentwickelt, um Computer zu bauen. Die Firma IBM erfand die wirksame Idee zur Datenerfassung. Die einer rosigen Zukunft prädestinierte Firma stellte Lochkarten her und simulierte logische Vorgänge, wobei mithilfe von Nadeln, langen spitzen Metallnadeln, im Scherz Stricknadeln genannt, Lochkarten abgetastet wurden. Währenddessen wendeten wir in der Stadt Algier dieses System auf Menschen an.
Ich muss hier dem französischen Erfindungsgeist eine Huldigung darbringen. Das kollektive Gedankengut dieses Volkes, dem ich angehöre, besitzt nicht nur die Fähigkeit, komplexe, äußerst abstrakte Systeme zu entwickeln, sondern sie darüber hinaus auch noch auf den Menschen anzuwenden. Der französische Erfindungsgeist hat es verstanden, eine orientalische Stadt in ihre Gewalt zu bekommen, indem er auf ganz konkrete Weise die Prinzipien der Datenverarbeitung auf sie anwandte. Anderswo benutzte man sie, um Rechenmaschinen zu entwickeln; dort wandte man sie auf den Menschen an.
Auf alle Häuser der Stadt Algier wurde mit Farbe eine Nummer gemalt. Für jeden Menschen wurde eine Karteikarte angelegt. Die ganze Stadt Algier wurde in ein Koordinatensystem eingebettet. Alle Menschen stellten Daten dar, es wurden Berechnungen mit ihnen angestellt. Niemand konnte eine Bewegung machen, ohne dass das Netz sich bewegte. Eine ungewohnte Störung war ein Byte Verdacht. Das geringste Beben von Identitäten stieg durch die Fäden des Netzes bis zu den Villen auf den Höhen der Stadt hinauf, wo man wachte, ohne zu schlafen. Sobald es ein Signal des Misstrauens gab, sprangen vier Männer in einen Jeep. Sie rasten durch die Straßen, hielten sich mit einer Hand an der Karosserie fest, umklammerten mit der anderen die Maschinenpistole. Sie stoppten mit quietschenden Reifen vor einem Wohnhaus, sprangen gleichzeitig aus dem Wagen und rannten bebend vor Energie die Treppe hinauf. Sie verhafteten den Verdächtigen im Bett, auf dem Treppenflur oder auf der Straße. Sie schleiften ihn im Pyjama in den Jeep, rasten wieder zurück auf die Anhöhe, ohne je das Tempo zu verlangsamen. Sie fanden immer jemanden, denn jeder Mensch war eine Karteikarte und jedes Haus vermerkt. Es war der militärische Triumph der Karteikarten. Die vier bewaffneten Athleten, die ohne jemals zu verlangsamen in einem Jeep durch die Stadt rasten, brachten immer jemanden mit.
Die Stricknadeln, die man anderswo zum Angeln von Lochkarten benutzte, wurden in der Stadt Algier benutzt, um Menschen zu angeln. Dank eines Lochs in einem Menschen angelte man mit der langen Nadel einen anderen Menschen. Man wandte die Stricknadeln auf Menschen an, während die Firma IBM sie nur auf Lochkarten anwandte. Man steckte die Nadeln in die Menschen, durchlöcherte sie, wühlte in diesen Löchern, und so angelte man durch einen Menschen andere Menschen. Ausgehend von den Löchern einer Karte fing man mithilfe langer Nadeln andere Lochkarten. Es war ein voller Erfolg. Alle, die sich rührten, wurden festgenommen. Alle hörten auf sich zu rühren.
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