Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Spazierstock aus lackiertem Bambus.
»Sie halten zu oft inne, junger Mann. Ich verstehe, dass Sie sich vergewissern wollen, ob das, was Sie gezeichnet haben, auch wirklich stimmt, aber wenn Ihre Malerei so lebendig sein soll wie Sie oder wie diese Bäume, die Sie malen wollen, dann dürfen Sie ihren Atemhauch nicht unterbrechen. Sie müssen sich von einem einzigen Pinselstrich leiten lassen.«
Salagnon verschlug es die Sprache; mit dem Pinsel in der Luft betrachtete er diesen seltsamen, gut gekleideten Annamiten, der ihn ohne jede Höflichkeitsfloskel angesprochen hatte, ohne die Augen zu senken, und noch dazu in einem Französisch, das eleganter war als sein eigenes, wenn auch mit einem kaum wahrnehmbaren Akzent. Die kleinen Kinder hatten sich ein wenig verlegen aufgerichtet und wagten sich nicht zu rühren angesichts dieses so aristokratisch wirkenden Mannes, der ohne Unterwürfigkeit einen Franzosen ansprach.
»Von einem einzigen Pinselstrich?«
»Ja, junger Mann.«
»Ist das ein chinesischer Zaubertrick?«
»Das ist, wenn man es ganz einfach ausdrücken will, die Kunst des Pinselstrichs.«
»Malen Sie, Monsieur?«
»Ab und zu.«
»Können Sie so etwas malen wie diese chinesischen Bilder, die ich gesehen habe, mit Bergen, Wolken und ganz kleinen Menschen?«
Der elegante Herr lächelte wohlwollend, was ein feines Netz von Fältchen auf seinem ganzen Gesicht erkennen ließ. Er musste schon sehr alt sein. Aber das merkte man ihm nicht an.
»Kommen Sie morgen zu mir nach Hause. Am Nachmittag. Dann zeige ich es Ihnen.«
Er gab ihm eine auf Chinesisch, Vietnamesisch und Französisch bedruckte Visitenkarte, die mit dem roten Stempel verziert war, mit dem die Maler dort ihre Werke signieren.
Salagnon lernte ihn nach und nach kennen. Er besuchte ihn oft. Der alte Herr hatte sein schwarzes Haar straff nach hinten gekämmt, was ihm das Aussehen eines Argentiniers verlieh, und er trug nur helle Anzüge, stets mit einer frischen Blume im Knopfloch. Er empfing ihn ungezwungen, mit offener Jacke, die linke Hand in der Hosentasche, und schüttelte ihm sehr unzeremoniell und mit amüsierter Distanz allen Bräuchen gegenüber die Hand. »Kommen Sie, junger Mann, kommen Sie!« Und dann öffnete er ihm mit einer Handbewegung die großen Räume seines Hauses, die alle leer waren und deren rote Farben vom grässlichen Klima zu Pastelltönen verwässert worden waren. Er sprach ein perfektes Französisch, bei dem der Akzent nur eine originelle, kaum definierbare Phrasierung darstellte, wie eine leichte Manieriertheit, die er zum Vergnügen beibehielt. Er benutzte akademische Redewendungen, die man nur in gewissen Kreisen in Paris hörte, und äußerst gewählte Worte, die er immer genau ihrer Definition entsprechend verwandte. Salagnon wunderte sich über diese ausgezeichnete Kenntnis seiner Muttersprache, die er selbst nicht besaß. Er sagte das zu dem alten Herrn, was diesen zum Lächeln brachte.
»Wissen Sie, mein junger Freund, die beste Verkörperung der französischen Werte finden Sie unter den sogenannten Farbigen. Das Frankreich, von dem wir hier reden, mit seiner Größe, seinem stolzen Humanismus, seinem klaren Denken und seinem Kult der Sprache, dieses Frankreich finden Sie im Reinzustand auf den Antillen und bei den Afrikanern, den Arabern und den Indochinesen. Die weißen Franzosen, die im ›engen Frankreich‹, wie wir das nennen, geboren sind, sind immer völlig verblüfft, wenn sie feststellen, dass wir in so starkem Maße jene Werte verkörpern, von denen man ihnen in der Schule erzählt hat und die für sie unerreichbare Utopien bleiben, die aber unser ganzes Leben ausmachen. Wir verkörpern in der Praxis meisterhaft das theoretische Ideal Frankreichs. Wir, die kultivierten Eingeborenen, sind der Ruhm und die Rechtfertigung des Kolonialreichs und dessen Erfolg, doch das wird auch zu seinem Sturz führen.«
»Warum zu seinem Sturz?«
»Wie soll man heute noch das sein, was man einen Eingeborenen nennt, wenn man sich zugleich in solchem Maß als Franzose fühlt? Man muss wählen. Das eine und das andere, das ist so, als wären Feuer und Wasser im selben Glas eingeschlossen. Eines von beiden muss den Sieg davontragen, und das wird schnell geschehen. Aber kommen Sie doch und sehen Sie sich meine Bilder an.«
Der größte Raum des alten Hauses, dessen Decke sich in den Ecken schwarz verfärbte und in dem der Putz an vielen Stellen herabfiel, war nur mit einem großen Korbsessel und einem roten, mit einem
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