Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Eisenring verschlossenen Lackschrank eingerichtet. Der Mann holte mehrere in Seidenetuis gehüllte und mit Schnüren verknotete Rollen aus dem Schrank. Er forderte Salagnon auf, sich in den Sessel zu setzen, fegte den Boden mit einem kleinen Besen und legte ihm die Rollen vor die Füße. Er knüpfte die Schnüre auf, nahm die Hüllen ab und entrollte anmutig nach vorn gebeugt die Bilder langsam auf dem Boden.
»So muss man Gemälde betrachten, die der chinesischen Tradition entstammen. Es empfiehlt sich nicht, sie ein für alle Mal an die Wand zu hängen, sondern man muss sie entrollen, damit sie sich hinziehen wie ein Weg. Dann sieht man, wie die Zeit auftaucht. Die Zeit, die man braucht, um sie zu betrachten, verschmilzt mit der Zeit, sie zu entwerfen und jener, sie auszuführen. Wenn niemand sie betrachtet, darf man sie nicht offen, sondern muss sie eingerollt lassen, gegen Blicke geschützt, gegen sie selbst geschützt. Man entrollt sie nur vor jemandem, der diese Enthüllung zu schätzen weiß. So sind sie entworfen worden, wie man einen Weg entwirft.«
Er entrollte vor Salagnons Füßen mit wohlbemessenen Gesten ein großes Landschaftsgemälde und wartete gespannt darauf, welche Gefühle das Gesicht des jungen Mannes zum Ausdruck bringen würde. Salagnon hatte den Eindruck, als hebe er langsam den Kopf. Zu lange Berge tauchten aus den Wolken auf, Bambuspflanzen richteten ihren Schaft auf, Bäume ließen ihre Äste wachsen, von denen die Luftwurzeln von Orchideen herabhingen, Wasser fiel von einem natürlichen Becken in ein anderes, ein schmaler Weg zwischen steilen Felsen führte den Berg hinauf, zwischen krummen Kiefern, die sich an den Boden klammerten so gut sie konnten und stärker im Nebel verwurzelt waren als im Felsen.
»Und Sie verwenden ausschließlich Tusche?«, flüsterte Salagnon voller Bewunderung.
»Braucht man etwas anderes? Um zu malen, um zu schreiben, um zu leben? Tusche genügt für alles, junger Mann. Und man braucht nur einen einzigen Pinsel, eine Stange gepresster Tusche, die man verdünnt, und einen ausgehöhlten Stein, um sie aufzunehmen. Und ein bisschen Wasser. Dieses Material für ein ganzes Leben passt in eine Westentasche; und wenn man keine Weste hat, in eine Umhängetasche. Man kann sich mit dem Werkzeug eines chinesischen Malers vorwärtsbewegen: der dahinschreitende Mensch malt. Mit den Füßen, mit den Beinen, mit den Schultern, mit dem Atem, mit dem ganzen Leben bei jedem Schritt. Der Mensch ist Pinsel, und sein Leben ist dessen Tusche. Die Spuren seiner Schritte hinterlassen Gemälde.«
Er entrollte mehrere.
»Das sind sehr alte chinesische Gemälde. Und die da sind von mir. Aber ich male kaum noch.«
Salagnon hockte sich ganz dicht vor die Gemälde, er folgte den Rollen auf allen vieren und hatte den Eindruck, nichts zu begreifen. Es handelte sich nicht ganz mehr um Bilder und auch nicht um den Akt des Sehens und auch nicht mehr darum, etwas zu verstehen. Eine Vielzahl kleiner konventioneller und gegenständlicher Zeichen, die sich unentwegt bewegten, was eine leidenschaftliche Erregung der Seele hervorrief, ein aufbrausendes Verlangen auf die Welt, eine Begeisterung für das ganze Leben. So als sähe er Musik.
»Sie sprechen von einem Menschen, der malt, aber ich sehe hier niemanden. Keine Silhouette, keine Gestalt. Malen Sie auch Porträts?«
»Niemanden? Junger Mann, Sie verstehen mich falsch und Sie überraschen mich. Alles hier ist der Mensch.«
»Alles? Ich sehe nur einen.«
Salagnon wies auf eine kleine, in ein Faltenkleid gehüllte, schwer zu erkennende Gestalt, die dabei war, das erste Wegdrittel zu erklimmen, eine Gestalt, nicht größer als der Nagel des kleinen Fingers, die kurz davor war, hinter einem Hügel zu verschwinden. Der alte Herr lächelte geduldig.
»Sie legen eine gewisse Naivität an den Tag, mein junger Freund. Das belustigt mich, wundert mich aber nicht. Ihre Naivität hat drei Wurzeln: die der Jugend, die des Soldaten und die des Europäers. Gestatten Sie, dass ich, zwar auf Ihre Kosten, aber durchaus wohlwollend, darüber lächele, dass Sie noch so viel Unschuld zeigen: Das ist das Privileg des Alters. Sie erkennen zwar in diesem Gemälde keine menschliche Gestalt, aber soll das etwa heißen, dass es deshalb nicht den Menschen zeigt? Müssen Sie einen Menschen sehen, um auf die Präsenz des Menschen zu schließen? Das wäre doch trivial, oder etwa nicht?
In diesem Land gibt es nichts, was nicht menschlich wäre. Das Volk ist alles,
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