Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
der Ladefläche der Lastwagen saßen, müde Soldaten, die ihnen manchmal zuwinkten. Dann beschleunigte der Konvoi mit Geklapper von Metall und aufheulenden Motoren das Tempo und wirbelte hinter sich eine Wolke aus gelbem Staub auf, die Kinder stoben auseinander wie unzählige Stare, kamen wieder zusammen, rannten in eine andere Richtung und sprangen gemeinsam ins Wasser. Die Anzahl der Kinder hier ist riesig, sie sind viel zahlreicher als in Frankreich, man möchte meinen, sie kämen aus dem zu fruchtbaren Boden hervor, sie sprössen und vervielfältigten sich wie Wasserhyazinthen auf unbewegten Seen. Zum Glück stirbt man hier früh, sonst wäre der ganze See von ihnen bedeckt; und zum Glück vervielfältigen sie sich sehr schnell, denn da so viele sterben, wäre sonst bald alles entvölkert. Wie im Dschungel wächst hier alles und bricht alles zusammen, Leben und Tod zur gleichen Zeit, in einer einzigen Bewegung. Salagnon zeichnete Kinder, die am Wasser spielten. Er zeichnete sie mit reinen Pinselstrichen, ohne Schatten, mit vibrierenden Linien, sie bewegten sich die ganze Zeit über dem horizontalen Strich der Wasseroberfläche. Je mehr er in diesem Land mit Tod und Blut konfrontiert wurde, desto zartere Bilder schickte er Euridice.
Sobald die rote Sonne im Westen unterging, kam Leben in Hanoi. Salagnon ging essen, er ließ sich an jenem Abend wieder einmal eine Suppe bringen – nie in seinem Leben hatte er so viele Suppen gegessen. In der großen Schale schwamm eine Vielzahl von Dingen in einer duftenden Brühe, so wie Indochina im Wasser seiner Flüsse schwamm und in den Düften von Blüten und Fruchtfleisch. Eine Schale wurde vor ihn hingestellt, in der zwischen gewürfeltem Gemüse, Glasnudeln und in kleine Scheiben geschnittenem Fleisch ein Hähnchenfuß mitsamt allen Krallen lag. Er bedankte sich für diese Aufmerksamkeit: Man kannte ihn in diesem Lokal. Rings um ihn herum aßen die Tonkinesen schnell und mit lauten Sauggeräuschen, französische Soldaten bestellten weiteres Bier, und Luftwaffenoffiziere hatten ihre schöne Schirmmütze mit den vergoldeten Flügeln auf den Tisch gelegt, sie unterhielten sich und lachten über die Geschichten, die einer nach dem anderen zum Besten gab. Sie hatten Salagnon, weil auch er Offizier war, vorgeschlagen, an ihrem Tisch Platz zu nehmen, aber er hatte die Einladung abgelehnt und dabei entschuldigend auf seinen Pinsel und die aufgeschlagene weiße Heftseite gezeigt. Sie hatten ihn mit verständnisvoller Miene gegrüßt und sich wieder in ihre Gespräche vertieft. Salagnon zog es vor, allein zu essen. Draußen ging das muntere Treiben weiter, und in dem Lokal wechselten die Tonkinesen einander ab, um zu essen, immer sehr schnell, die Franzosen dagegen blieben lange am Tisch sitzen, tranken und erzählten. Eine Dame in reifem Alter mit einer Dauerwelle, blau geschminkten Augen und kirschrotem Mund brachte die Gerichte. Sie schalt unaufhörlich das Mädchen aus, das für die Getränke zuständig war und sich wie ein Aal wortlos in ihrem geschlitzten Kleid wand, um nicht von den Soldaten angefasst zu werden, die dauernd lachend versuchten, ihrer habhaft zu werden. Sie brachte das Bier an die Tische, ohne den Schritt zu verlangsamen, und Salagnon wusste nicht, ob die Chefin ihr befahl, den Händen der Soldaten auszuweichen oder, im Gegenteil, ihr Spiel mit ihnen zu treiben.
Das Licht erlosch. Der quietschende Ventilator blieb stehen. Das rief eine Salve von Applaus, Gelächter und gespielten Entsetzensschreien hervor, die nur von den Franzosen abgegeben wurden. Draußen schimmerte der Himmel noch, und die an den Straßenständen hängenden Petroleumlampen warfen zitterndes Licht. Plötzlich waren Schüsse zu hören. Wortlos verließen alle Tonkinesen das Lokal. Die beiden Frauen verschwanden, man hörte sie nicht mehr, und die Franzosen waren allein in dem billigen Esslokal. Sie verstummten und erhoben sich, man sah ihre Silhouetten, und die orangefarbenen Flammen der Lampen von draußen spiegelten sich auf ihren Gesichtern wider. Salagnon hatte gerade die Schale mit Suppe an den Mund gesetzt, als das Licht erlosch. Er wagte es nicht, die Suppe zu kosten, weil er befürchtete, er könne im Halbdunkel den Hähnchenfuß mitsamt den Krallen hinunterschlucken. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Auf der Straße wurde die Bewegung einer Menschenmenge vernehmbar. Das Geräusch von rennenden Schritten, Schreien und Schüssen war zu hören. Ein junger
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