Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
Vom Netzwerk:
rings um uns herum, und zwar äußerst zahlreich. Die verdrängte Erinnerung an damals treibt sogar in den Zahlen ihr Unwesen.
    Und dann sah ich sie, wie sie durch den Bahnhof ging und einen Koffer auf Rollen hinter sich herzog, wie sie mit jenen gelenkigen Hüftbewegungen ging, die mir so sehr an ihr gefielen und die ich in meinen eigenen Hüften und Händen spürte, wenn ich sie laufen sah. Ich stand auf, verabschiedete mich von dem Soziologen, der weiterhin Felder ankreuzte, und folgte ihr. Ich ging nicht weit. Sie nahm ein Taxi und verschwand. Ich müsste sie endlich kennenlernen, sagte ich mir; ich müsste sie endlich ansprechen.
    Wie soll man sich vorstellen, dass jemand, der kaum noch Sozialkontakte hat wie ich, ein Liebesleben haben kann? Wie soll man begreifen, dass es noch Frauen gibt, die es akzeptieren, dass ich sie in die Arme nehme? Ich weiß es nicht. Wir sind noch immer skythische Reiter. Wir verdanken unsere Frauen der Kraft unserer Pferde, der Macht unserer Bögen, unserer Schnelligkeit. Frauen, die Einspruch dagegen erheben, sollten einen Blick auf die Statistiken werfen. Statistiken scheinen nichts auszusagen; aber sie zeigen, wie wir handeln, ohne dass es uns bewusst ist. Der gesellschaftliche Rangverlust führt zu Einsamkeit. Die gesellschaftliche Integration begünstigt die Kontakte. Wie lässt es sich erklären, dass manche Frauen es akzeptieren, mich trotz meines gesellschaftlichen Abstiegs noch zu küssen? Ich weiß es nicht. Sie sind der Sauerstoff; ich bin die Flamme. Ich betrachte die Frauen, denke an nichts anderes, als hinge mein Leben davon ab: Ohne sie würde ich ersticken. Ich spreche hastig mit ihnen über sie selbst, sie sind die Geschichte, die ich ihnen erzähle. Das hält sie warm, und ich bekomme etwas Luft. So ist es, genauso ist es, sagen sie mir, je länger ich ihnen erzähle, was sie mir einflößen. Die Flamme glänzt. Doch dann ersticken sie. Ihnen fehlt es an Luft, an der ihren. Ich lasse sie nach Luft ringend zurück, und ich bin fast verloschen.
    Aber sie ließ mich aufflackern, warum weiß ich nicht; ich war nicht mehr eine Kerzenflamme, sondern loderndes Feuer, imstande, alles schmelzen zu lassen, und wartete nur auf noch mehr Sauerstoff, um in einem Flammenmeer vor sie zu springen.
    Ich sah sie oft, aber immer auf der Straße. Ich bemerkte sie schon aus der Ferne. Ich hatte das Gefühl, als spüre der empfindsame Teil meines Seins, das Auge, die Netzhaut, der sehende Teil des Gehirns, also alles, was in mir empfindsam war, ihre Anwesenheit, wo auch immer sie sich befand, ob inmitten eines Stroms von Autos, Abgaswolken, oder umgeben von Motorrollern, Fahrrädern, großen Autobussen, die die Sicht versperrten, oder Fußgängern, die nach allen Seiten liefen, wo auch immer, ich sah sie sofort. Auf meiner begierigen Netzhaut wartete ihre Spur auf sie; ein winziger Hinweis genügte mir, und zwischen tausend sich bewegenden Fußgängern, zwischen Hunderten von Autos, die in entgegengesetzte Richtungen fuhren, sah ich sie. Ich sah nur sie. Ich war imstande, ihre Anwesenheit mit der Empfindlichkeit einer Photonenfalle einzufangen. Ich sah sie oft. Sie wohnte anscheinend nicht weit von mir. Ich wusste nichts über sie, nur ihre Bewegungen und ihr Aussehen waren mir vertraut.
    Sie ging mit lebhaften Schritten durch die Stadt, ihr Gang hatte etwas Sprunghaftes. Ich sah sie oft. Sie überquerte die Straßen, auf denen ich herumlungerte, mit der Elastizität eines abprallenden Balls, stets mit fließenden, eleganten Bewegungen, ohne je an Kraft einzubüßen, eine in Form und Materie gezügelte Kraft, die bei der Berührung mit dem Boden neue Energie erhielt und sie nach vorn schnellen ließ. Auf den lärmenden, überfüllten Straßen erriet ich ihre Anwesenheit an winzigen Einzelheiten, nahm ihren tanzenden Gang wahr, während sie durch die Menge ging, sah inmitten all dieser Menschen nur ihre Bewegungen. Und ich entdeckte aus weiter Ferne ihr Haar. Es war fast ganz grau, mit nur einigen schneeweißen Haaren darunter. Und das verlieh ihr eine seltsame Helligkeit, wenn sie plötzlich auftauchte. Ihre Haare umtanzten ihren Nacken mit der gleichen Lebhaftigkeit, die ihr Schritt besaß, sie hatten nichts Stumpfes, waren lebendig, aufgebauscht, glänzend, aber grau mit Weiß vermischt. Sie umrahmten ihr Gesicht wie ein Federschmuck, ein weißer Flaum, eine lebendige Wolke, besaßen eine ebenso präzise Form wie Schnee auf den kahlen Ästen eines Baums, waren ebenso perfekt,

Weitere Kostenlose Bücher