Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Chinesen malen seit Jahrhunderten dieselben nicht existierenden Felsen, dasselbe Wasser, das in ein Becken fällt, ohne wirklich Wasser zu sein, dieselben vier Pflanzen, die nur Zeichen sind, dieselben Wolken, die vor allem ein Verblassen der Tusche sind; das Leben der Malerei ist nicht das Motiv, sondern die Spur dessen, was der Pinsel erlebt.«
Ich bin ihm dankbar dafür, dass er mich das gelehrt hat, er sagte mir das übrigens nur ganz nebenbei. Danach bereiteten wir die Tusche zu und hinterließen sehr schöne Spuren von tiefem Schwarz, die Bäume darstellten. Dieser Unterricht erleichterte mich: Er beruhte nur auf Tusche und Atem; er hielt nur die von Händen entworfene Spur des Lebens fest. Er lehrte mich etwas, was schnell vorbeigeht, wenn man es ausspricht, was man aber erst ganz allmählich begreift; er lehrte mich etwas, was viel wichtiger ist als alle Werkstattgeheimnisse, viel grundlegender als alle technischen Kenntnisse, die sowieso nicht ausreichend und irreführend sind; es ist unnötig ein Motiv zu wählen, man braucht nur zu malen. Oh, wie mich das erleichterte! Das Motiv ist unwichtig.
»Mal einfach. Egal was. Mal nur«, sagte er. »Nimm einen Baum, stell ihn dir vor, mal sein Leben; nimm einen Stein, mal sein Wesen. Betrachte einen Menschen; mal seine Präsenz. Nur das: seine einzigartige Präsenz. Sogar eine flache Wüste ist voller Steine, sie erlaubt zu malen. Einen Blick auf seine Umgebung zu werfen genügt, um zu beginnen.«
Die Unzahl von Möglichkeiten erleichterte mich: Man braucht nur da zu sein und es auszuführen. Er lehrte mich, den Blutstrom zu sehen, ohne zu beben, und ihn zu malen, den Tuschestrom in mir zu spüren, ohne zu zittern, und ihm zu erlauben, durch mich hindurch zu fließen. Ich konnte sehen, begreifen, malen. Nur malen.
Ich ging an einen Ort, an dem es von Menschen wimmelte. Ich ging zum Bahnhof, um irgendwelche Leute zu zeichnen. Ich setzte mich auf eine dieser nebeneinander aufgereihten Plastikschalen, die den Wartenden als Sitze dienen, und betrachtete den turbulenten Menschenstrom, der sich durch die Gänge schob. Der große Lyoner Bahnhof ist ein multimodales Zentrum, eine Verbindung aus dicken Rohren, durch die die Leute strömen. Es kommen immer Leute vorbei. Ich setzte mich dorthin, um Passanten zu malen, um irgendwelche Leute zu malen, ich wählte sie nicht aus, ich würde sie nie wiedersehen. Der große Bahnhof ist der ideale Ort, um zu malen, was gerade kommt.
Es dauerte sehr lange, ehe ich begriff, was der Mann tat, der neben mir saß. Wie ich betrachtete er die Vorübergehenden, doch er kreuzte Felder auf einem Vordruck an, der auf ein Schreibbrett geklemmt war, das auf seinen Knien ruhte. Ich wusste nicht, was er ankreuzte, es gelang mir nicht, die Überschriften der Spalten zu entziffern, ich begriff nicht, was er zählte. Ich sah, wie er mit den Blicken die Polizisten verfolgte, die im Bahnhof Streifendienst verrichteten. Die jungen, athletisch gebauten Männer gingen in der Menge auf und ab. Sie bildeten mehrere Gruppen, der Schlagstock klopfte gegen ihre Schenkel, am Gürtel hingen Handschellen, und der in der Mitte geknickte Schirm ihrer Mütze zeigte die Richtung ihres Blicks an. Ab und zu kontrollierten sie jemanden. Sie forderten ihn auf, das Gepäck abzustellen, ließen sich die Fahrkarte zeigen, befahlen ihm, die Arme zu heben, durchsuchten die Taschen. Sie verlangten die Ausweispapiere und sagten manchmal etwas in ein Walkie-Talkie, nahmen aber niemanden fest. Dann kreuzte der Mann neben mir etwas an.
»Was zählen Sie?«
»Die Kontrollen. Um herauszufinden, wen sie kontrollieren.«
»Und?«
»Sie kontrollieren nicht jeden. Der entscheidende Faktor ist die ethnische Zugehörigkeit.«
»Und wie können Sie das beurteilen?«
»Mit dem Auge, genau wie sie.«
»Das ist nicht sonderlich exakt.«
»Aber real. Die ethnische Zugehörigkeit ist undefinierbar, hat aber konkrete Auswirkungen: sie lässt sich nicht definieren, löst aber Handlungen aus, die ihrerseits messbar sind. Die Araber werden achtmal so oft, und die Schwarzen viermal so oft kontrolliert wie die anderen. Ohne dass im Übrigen jemand festgenommen wird. Es handelt sich nur um Kontrollen.«
Die Behandlung ist nicht vorurteilsfrei; oder wenn jemand behaupten will, sie sei vorurteilsfrei, dann behauptet er, es gäbe achtmal so viele Araber. Wie damals in Algerien. Da sind sie schon wieder. Sie haben keinen Namen, aber man erkennt sie sofort wieder. Sie sind da im Dunkeln,
Weitere Kostenlose Bücher