Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
ausgewogen, selbstverständlich. Die vollen Lippen ihres schönen, gut geschnittenen Munds waren rot bemalt. Ich kannte ihr Alter nicht. Diese widersprüchlichen Anzeichen verwirrten mich. Zutiefst. Sie war alterslos, war in meinem Alter, das ich längst vergessen hätte, wenn ich es nicht ab und zu nachgerechnet hätte. Aber diese Unkenntnis des Alters, des meinen, des ihren, ist keine Nichtigkeit, sondern eine Dauer, der ruhige Verlauf der eigenen Zeit. Sie vereinte in sich alle Altersstufen so wie es alle authentischen Menschen tun: die Vergangenheit, die sie trägt, die Gegenwart, die sie tanzt, die Zukunft, die ihr keine Sorgen bereitet.
Ich kannte sie wie meine Seele, ohne jemals mit ihr gesprochen zu haben. Das Leben in der Stadt bewirkte, dass wir uns mehrmals im Jahr begegnet waren, aber die Rührung, die das in mir hervorrief, machte auf mich den Eindruck, als sei es jeden Tag gewesen. Als ich sie zum ersten Mal sah, dauerte das nur ein paar Sekunden. So lange wie ein Auto braucht, um mit mäßiger Geschwindigkeit am Schaufenster eines Geschäfts vorbeizufahren. Ich hatte damals noch ein Auto, in dem ich viel Zeit verbrachte, um einen Parkplatz zu finden, von Ampel zu Ampel zu fahren oder mich in eine Fahrspur hinter den anderen Autos einzureihen, und ich kam auf den Straßen nicht viel schneller voran als die Fußgänger. Ich sah sie beim ersten Mal nur ein paar Sekunden, aber ihr Bild prägte sich meinem Auge ein wie der Abdruck eines Fußes in frischem Lehm. Auch das dauert nur so lange, wie man braucht, um einen Schritt zu tun, aber die geringsten Einzelheiten des Fußes werden im Lehm festgehalten; und wenn er trocknet, für lange Zeit. Und wenn man ihn brennt, für immer.
Ich hatte damals noch eine Ehefrau, wir fuhren auf den bereits dunklen Straßen nach Hause, und plötzlich sah ich sie hinter dem erleuchteten Schaufenster einer Konditorei, die ich kannte. Sie stand im weißen Neonlicht. Ich erinnere mich an ihre Farben: das Veilchenblau ihrer schwarz umrandeten Augen, das Rot ihrer Lippen, ihre mit kleinen Sommersprossen übersäte Haut, das schimmernde Braun ihrer abgetragenen Lederjacke, und das von einer Mischung aus Grau und Weiß eingerahmte Gesicht, der glitzernde Schnee, der meisterhaft auf ihren Bewegungen, auf ihrer Schönheit, auf der Vollkommenheit ihrer Züge ruhte. Diese wenigen Sekunden haben mir den Atem geraubt. Ein ganzes Leben war mir geschenkt worden, wie ein kleiner mehrfach gefalteter Zettel, der in den schmalen Schlitz weniger Sekunden gesteckt wird. Diese wenigen Sekunden vor einem mit Neonlicht beleuchteten Schaufenster besaßen eine ungeheure Dichte, ein Gewicht, das meine Seele den ganzen Abend, die folgende Nacht und den darauffolgenden Tag verformte.
Ich hätte, wie ich mir anschließend ausmalte, den Wagen mitten auf der Straße anhalten und mit offener Tür stehenlassen, in die Konditorei gehen und mich ihr vor die Füße werfen sollen, auch auf die Gefahr hin, dass sie mich auslachte. Dann hätte ich ihr einen riesigen Windbeutel voller überquellender schneeweißer Sahne geschenkt. Und während ich sie stumm und nach Worten suchend betrachtete und sie die duftige Sahne mit der Zungenspitze gekostet hätte, hätte mein mit offener Tür mitten auf der schmalen Straße stehengelassener Wagen den Verkehr aufgehalten. Andere Autos hätten sich dahinter gestaut und diese Straße versperrt, dann die umliegenden, das ganze Viertel und schließlich halb Lyon. In langen Schlangen auf den Brücken und Uferstraßen, ohne Hoffnung bald weiterfahren zu können, hätten alle wütend gehupt, pausenlos, und niemand hätte etwas anderes tun können, als laut zu stöhnen, während ich nach Worten gesucht hätte und meine schüchtern hervorgebrachte erste Liebeserklärung von einem gigantischen Hupkonzert begleitet worden wäre.
Doch ich habe es nicht getan, der Gedanke ist mir zu spät gekommen, ich war vom Schock wie gelähmt. Mein Körper ist automatisch weitergefahren und ist ins Haus gegangen, nachdem er das Auto geparkt hatte; mein Körper hat sich automatisch ausgezogen und ins Bett gelegt, hat geschlafen, indem er aus Gewohnheit die Augenlider schloss, doch meine Seele fand keinen Schlaf, sie suchte nach Worten.
Ich sah sie, ohne dass sie es wusste, in einem Rhythmus, der mich zu der Annahme verleitete, ich lebe ein bisschen mit ihr zusammen. Ich kannte ihre Garderobe. Ich erkannte von weitem ihren Schirm wieder, ich bemerkte, wenn sie eine neue Handtasche trug. Ich tat
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