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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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es nicht mehr. Ich sehe heute manchmal Werbung für die Armee. Man kann sich verpflichten, Karriere machen, es ist ein Beruf, der darauf abzielt, die Leute zu schützen, Leben zu retten, über sich hinauszuwachsen. Wir dagegen haben nur unser eigenes Leben gerettet; wir haben Leute beschützt, wenn wir es konnten, und ansonsten haben wir vor allem versucht, schneller zu rennen als der Tod. Wenn du die Kriegswerkzeuge nicht mehr wiedererkennst, kann ich endlich gehen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich über deine Unwissenheit freue.«
    Ich betrachtete den Gegenstand, der geöffnet auf dem Tisch lag; jetzt wusste ich, wie man ihn benutzte, hatte begriffen, warum er diese Form besaß.
    »Sie freuen sich über meine Unwissenheit?«
    »Ja. Sie erleichtert mich, als verwirkliche sich dadurch die Prophezeiung meines Onkels: Jetzt werden wir endlich damit Schluss machen können. Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, war er im Gefängnis. Das waren nur ein paar Minuten, man hat mich in seine Zelle gehen lassen und uns dann allein gelassen, als die Schlüssel umgedreht und die Türen aufgemacht wurden, hat mich niemand direkt angesehen. Er war zum Tode verurteilt worden und befand sich in Isolierhaft, aber zum Glück zählt nicht nur das Gesetz, sondern auch die Treue. Man hat mich hineingelassen, damit ich ihn noch ein letztes Mal sehen konnte, und man hat mir gesagt, ich solle mich beeilen und nie etwas darüber verlauten lassen. Er bedauerte, dass er sein Exemplar der Odyssee nicht mehr hatte. Er kannte das Epos inzwischen auswendig, er war endlich mit der Aufgabe, es auswendig zu lernen, fertig geworden, aber er hätte es gern in seiner Nähe gehabt wie in den vergangenen zwanzig Jahren. Wir wussten dort im Gefängnis nicht viel zu sagen, ein Achselzucken genügte, um den Zusammenbruch von allem auszudrücken, sonst wäre ein ganzes Leben erforderlich gewesen, um all die Klagen auszudrücken; und daher hat er mir von der Odyssee erzählt und wie sie zu Ende geht. Am Schluss besteigen Odysseus und Penelope ›freudig ihr altes Lager, der keuschen Liebe geheiligt‹. Und ›nachdem sie die Fülle der seligen Liebe gekostet‹ haben, geben sie sich den Freuden des Wortes hin. Aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Odysseus muss erneut aufbrechen mit dem gut geglätteten Ruder eines Schiffes auf der Schulter. Und wenn er an einen Ort gelangt, an dem man ihn fragt, warum er eine Schaufel auf seiner rüstigen Schulter trage, wenn er also so weit vom Meer entfernt ist, dass man das Ruder eines Schiffes nicht mehr erkennt, kann er haltmachen und das Ruder in die Erde stecken, wie man einen Baum pflanzt, nach Hause zurückkehren und friedlich in hohem Alter sterben.
    Mein Onkel war traurig darüber, dass ihm nicht so ein sanftes, vom Vergessen gezeichnetes Ende beschieden sein würde. Zu jenem Zeitpunkt tötete noch jeder jeden. Jeder hatte zu töten gelernt und rechnete damit, getötet zu werden. Waffen zirkulierten in Algier, jeder hatte welche, jeder benutzte sie. Algier war ein Chaos, ein Labyrinth aus Blut, man brachte sich auf den Straßen und in den Wohnungen gegenseitig um, in den Kellern wurde gefoltert, die Leichen wurden ins Meer geworfen oder in den Gärten begraben. Und all die, die nach Frankreich flohen, nahmen Waffen in ihrem dürftigen Gepäck mit sowie die Erinnerung voller Entsetzen an all die Waffen, die sie gesehen hatten. Sie würden sie ihr ganzes Leben lang wiedererkennen und nichts vergessen, das sollte ihr Herz in einen zu engen Käfig einschließen, der es daran hinderte zu schlagen. Wir werden erst dann den Frieden wiederfinden, wenn alle diesen zwanzigjährigen Krieg vergessen haben, in dem man das Fallenstellen, das Morden und das Zufügen von Schmerz gelehrt hat, als handele es sich um Basteltechniken. Mein Onkel wusste, dass er diesen Frieden nicht kennenlernen würde, dass ihm dafür keine Zeit mehr blieb. Er war mit dem Auswendiglernen des Buches fertig geworden und wusste, dass das für ihn das Ende bedeutete. Wir haben Abschied voneinander genommen, ich habe seine Zelle verlassen, man hat die Tür hinter mir verschlossen und hat mich begleitet, ohne mich anzusehen.
    Mein Onkel ist am folgenden Tag wegen Hochverrats, Verschwörung gegen die Republik und Mordversuch am Staatsoberhaupt erschossen worden. Mordversuch, wie es in der Anklage hieß, denn ihr Vorhaben ist misslungen, ihnen ist alles misslungen. Es wundert mich noch heute, dass Leute, die sonst so

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