Die Frau am Tor (German Edition)
Hause einen schwerverletzten Mann zurücklassen, einen Arzt, ihren Psychiater. Wie hieß er noch gleich? Ach ja, Dr. Ernst S., so hatte es jedenfalls in der Zeitung gestanden.
Es schien ihm ewig her, dass er das gelesen hatte, genau so wie das, was dann passiert war - diese dumme, schlimme Sache mit Eva, die plötzlich auf dem Boden ihres Badezimmers gelegen hatte. Wo mochte sie jetzt sein? Hatten die Sanitäter sie mitgenommen und ins Krankenhaus gebracht? Oder hatte der Notarzt sie nur kurz versorgt und ihr geraten, sich hinzulegen und sich ein paar Tage zu schonen? Vielleicht war sie ja gar nicht ohnmächtig gewesen und hatte sie ihm nur etwas vorgespielt, nachdem er sie, nun ja, etwas zu hart angefasst hatte. Das war zweifellos falsch von ihm gewesen, ganz falsch und kaum entschuldbar, das hätte er nicht tun dürfen. Aber musste sie ihm deswegen einen solchen Schrecken einjagen? Er war doch sowie mit den Nerven am Ende. Sie hatte ja selbst gesehen, dass es ihm in letzter Zeit nicht besonders gut ging und das oft genug zum Thema gemacht. Allerdings ohne zu wissen, weshalb, was auch gut so war. Denn wenn sie es gewusst hätte, wäre alles noch schlimmer gewesen. Und trotzdem...
Er spürte, wie ihm Tränen die Wangen hinunterliefen und vernahm ein Geräusch, das sich wie ein Schluchzen anhörte, und gerade als ihm bewusst wurde, dass es von keinem anderen als ihm selbst stammte, hörte er den Taxifahrer sagen:
“ Sie machen mir doch wohl da keinen Ärger, oder? Hören Sie, wenn Ihnen schlecht ist, dann sagen Sie es einfach und ich halte an. Ist Ihnen inzwischen übrigens eingefallen, wo ich Sie absetzen soll?”
“ Fahren Sie mich nach Hause”, sagte er, “einfach nach Hause.”
“ Vielleicht sind Sie auch noch so freundlich und sagen mir, wo das ist”, stöhnte der Fahrer, und nachdem er ihm die Adresse genannt hatte, murmelte er wieder etwas vor sich hin, das aber nicht zu verstehen war, und beschleunigte das Tempo.
“ He, Sie, aufwachen, wir sind da”, war das nächste, was er hörte. Das war nun wirklich ärgerlich. Denn dadurch wurde er mit einem Ruck herausgerissen aus einer Szenerie, in der er sich ausgesprochen wohl gefühlt hatte. Er hatte sich in einem fremden Land aufgehalten, das ihm jedoch zugleich seltsam vertraut vorkam, und war dort in die Gefangenschaft mehrerer Bewaffneter geraten. Doch er hatte keinerlei Furcht empfunden, sondern sofort gewusst, dass er ihnen dank seiner Wendigkeit und Schläue entkommen würde. Und genau das war ihm auch gelungen. Danach hatte er sich plötzlich im Kreis von Kollegen wiedergefunden, die ihn beglückwünschten und sagten: “Mensch, Kessler, was für eine tolle Geschichte du da erlebt hast. Wenn du die aufschreibst, kommst du ganz groß raus.” Unter den Kollegen waren auch Frauen gewesen, die ihm interessierte, bewundernde Blick zugeworfen und seine Nähe gesucht hatten, und ihn hatten warme Wogen von Genugtuung und Stolz durchflutet.
“ So, jetzt legen Sie sich am besten ins Bett und schlafen sich erst mal richtig aus”, sagte der Taxifahrer, nunmehr in gutmütigem Ton, nachdem er ihn bezahlt und ihm ein viel zu hohes Trinkgeld gegeben hatte. Er bot ihm sogar an, ihn zur Tür zu begleiten, aber er wehrte ab. Bestimmt lag Bergheim wieder hinter dem Fenster auf der Lauer und verfolgte jede Einzelheit des Geschehens. Seine Wohnungstür blieb zum Glück geschlossen, als er sie passierte, auf nicht ganz sicheren Beinen. Beim Treppensteigen musste er sich einige Male am Geländer festhalten.
In seiner Wohnung machte er Licht und zog dann zunächst in der Küche die Rollläden hoch, weil er Wasser trinken musste, denn sein Hals war wie ausgedörrt und die Zunge schien ihm am Gaumen zu kleben.
Der Taxifahrer hatte recht gehabt. Er musste sich jetzt erst einmal richtig ausschlafen. Eine andere, bessere Idee wollte ihm beim besten Willen nicht einfallen. Allenfalls hätte er sich vorher noch etwas zu essen machen können, denn in seinem Magen begann sich ein bohrendes Hungergefühl breitzumachen. Doch dazu hätte er noch einmal aufstehen müssen, und allein der Gedanke daran kam ihm wie eine Zumutung vor.
31.
Er träumte, er liege angekleidet auf seinem Bett und es klingele an der Tür und er versuche vergeblich aufzustehen. Es war ein stressiger, unerquicklicher Traum, und er wollte einen verhaltenen Fluch ausstoßen, doch die Lippen weigerten sich genau so wie die Beine, den Anweisungen seines Gehirns zu folgen. Aber er gab nicht auf, sondern
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