Die Frau am Tor (German Edition)
protzig zur Schau gestelltem Neureichtum hatte ihn immer eher suspekt angemutet.
Sein Blick blieb an der Markierung des Bahnhofs hängen. Ja, dorthin würde er gehen. Das war, wenn sich schon die erste, wirklich gute Idee zerschlagen hatte, nach Lage der Dinge immerhin die zweitbeste. Zum Bahnhof. Wie häufig er schon an diesen Orten gewesen war, an die man nur kam, um sie alsbald wieder zu verlassen: Bahnhöfe, Flughäfen, Rezeptionen, Hotelbars. Nie hätte er sich träumen lassen, unter welchen Umständen er einst den Potsdamer Hauptbahnhof aufsuchen würde - zu Fuß, ohne Gepäck und mit unbestimmten Absichten, die er mehr ahnte, als sie wirklich zu kennen und die ihm letztlich nicht geheuer waren.
Aber als er an einer Gaststätte vorbei kam, hatte er noch eine andere, bessere, im wahrsten Sinne näherliegende Idee. Der Bahnhof konnte warten, das hatte doch gar keine Eile. Wen kümmerte es schon, wann er dort sein würde, wenn es sogar ihm selbst völlig gleichgültig war?
Eine Stunde später verließ er das Lokal wieder. Er musste sich kurz an der Hauswand abstützen, da ihm etwas schwindelig wurde, was aber vielleicht auch dem Temperaturwechsel von der Kühle des Schankraums in die sommerliche Wärme zuzuschreiben war und weniger dem Alkohol, der in seinem Blut zirkulierte. So viel war das ja gar nicht, nur einige doppelte Wodka, allerdings auf nüchternen Magen, sodass er einmal zur Toilette gemusst und sich beinahe erbrochen hatte. Aber nach ein paar weiteren Doppelten war es ihm schon gleich besser gegangen.
Nein, betrunken war er nicht, höchstens ein wenig angetrunken, und das war auch völlig in Ordnung so. Denn auf diese Weise war er endlich von diesem peinigenden Hin und Her zwischen Anspannung und Gelähmtheit erlöst. Und erfreulicherweise hatte auch sein Verstand nun wieder ordnungsgemäß seine Arbeit aufgenommen und ihm als erstes den überaus vernünftigen Rat erteilt, zurückzugehen und nachzuschauen, was mit Eva war. Er brauchte doch lediglich bei irgendwem im Haus anzuklingeln und nachzufragen. Gewiss würde man es ihm sagen.
Doch als er bei dem Haus angelangt war, fand er diese Idee schon wieder überhaupt nicht mehr gut. Das hatte mit dem Haus zu tun, das sich für seine Begriffe merkwürdig verhielt. Es verschwamm vor seinen Augen und schwankte so sehr, dass er das Klingelbrett nicht fand.
30.
“ Wo soll's denn hin gehen, der Herr?”, fragte ihn der Mann am Steuer, warf ihm einen Blick über die Schulter zu, schüttelte den Kopf und murmelte etwas, das so klang wie “und dabei haben wir gerade mal Mittag”.
“ Nach Berlin”, antwortete er.
“ Geht das vielleicht auch etwas genauer?”
“ Ich sag Ihnen dann Bescheid, wenn es so weit ist. Erstmal einfach nach Berlin.”
Das Sprechen fiel ihm erstaunlich leicht, im Unterschied zu einigem anderen, beispielsweise der Aktivierung seines Kurzzeitgedächtnisses. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er in dieses Taxi gekommen war, denn um ein solches handelte es sich bei diesem Fahrzeug doch wohl. Er erinnerte sich lediglich daran, dass er noch einmal in dem Lokal gewesen war, in dem es diesen guten, kühlen, wohlig wärmenden Wodka gab. Es war anzunehmen, dass irgendjemand, vermutlich der Wirt, das Taxi für ihn bestellt hatte. Er selbst hatte das jedenfalls nicht veranlasst, dazu hatte er ja auch gar keinen Grund gesehen. Es gefiel ihm dort so gut, dass er noch sehr viel länger hätte bleiben mögen, vielleicht sogar für immer.
“ Machen Sie mir bloß keinen Stress”, ließ sich der Fahrer nach einiger Zeit wieder vernehmen, “und vor allem, kotzen Sie mir nicht in den Wagen.”
Und dann folgte abermals ein Kopfschütteln, begleitet von einem “Mann, Mann, Mann.”
Weshalb nur war dieser Mensch da vorn so schlecht auf ihn zu sprechen? Hatte er ihm irgendetwas getan? Er war sich keiner Schuld bewusst. Musste er sich überhaupt irgendeiner Schuld bewusst sein? Hatte er jemandem etwas getan? Wenn ja, dann auf jeden Fall nicht aus böser Absicht. “Du bist nicht böse, aber ein Scheißkerl.” Der Satz ging ihm auf einmal wieder durch den Kopf und er konnte sich sogar daran erinnern, wer ihn ausgesprochen hatte. Oder hatte sie es anders herum gesagt? “Du bist ein Scheißkerl, aber nicht böse.” Ja, so hatte sie es formuliert. Sie. Wo, um alles in der Welt, mochte sie geblieben sein? Zum Teufel gewünscht hatte er sie mehr als ein Mal. Aber sie konnte doch nicht einfach so verschwinden. Und dann auch noch bei sich zu
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