Die Frau am Tor (German Edition)
denken.“
32.
Wenn er später an das zurückdachte, was folgte, musste er jedes Mal feststellen, dass es ihm schwerfiel, sich an alle Einzelheiten zu erinnern.
Stärker als die dramaturgischen Details des Ablaufs, der dem, was er aus Filmen und dem Fernsehen kannte, ähnlicher war als er je vermutet hätte, blieben die eigenen Empfindungen haften – eine Mischung aus Furcht, Erleichterung und tiefer Reue über das, was er Eva angetan hatte, wobei Letztere alles andere zu überdecken, ja in gewisser Weise zu neutralisieren schien. Trotz seiner enormen Müdigkeit und Erschöpfung – oder auch gerade wegen ihr – fühlte er sich bei absolut klarem Verstand. Und bei aller Leere, die in ihm war, konnte er doch eine letzte Reserve von jener inneren Energie aktivieren, die ihm früher so oft in schwierigen Situation geholfen hatte. Sie gab ihm genug Kraft für die Entschlossenheit, durchzustehen, was ihn erwartete, auch weil sich damit eine Art selbstquälerische Genugtuung verband: Er hatte es nicht anders verdient. Nun bekam er die Quittung.
Bis zu dem Zeitpunkt, als die Polizei bei ihm anklingelte und ihn dann mitnahm aufs Revier, in den Verhörraum, hatte er sich einige Male ausgemalt, wie er reagieren würde, wenn es so weit käme und er sich rechtfertigen müsste. Er hatte sich vorgestellt, dass er zunächst einfach alles leugnen und so tun würde, als wisse er von nichts. Doch schon nachdem er in seiner Wohnung die ersten Sätze mit den beiden Beamten gewechselt hatte, war ihm klar geworden, wie absurd derlei Überlegungen waren. Sie wussten längst viel zu viel, als dass er ihnen etwas hätte vormachen können. Und das herauszufinden, war nicht einmal ein nennenswertes ermittlungstechnisches Problem gewesen, wie er selbst einsehen musste, als sein Hirn wieder ordentlich arbeitete. Sie hätten es ihm gar nicht unbedingt noch einmal im Einzelnen auseinanderlegen müssen, was sie aber dennoch taten, ganz sachlich und nicht einmal unfreundlich. Die obligatorischen Prozeduren wie Abnahme der Fingerabdrücke und Vergleiche von DNA-Proben – seine war bereits an der Zahnbürste in seinem Badezimmer sichergestellt worden, wie er erfuhr – erwiesen sich letztlich als nicht mehr relevant.
Er ließ nichts aus, schilderte seine Erlebnisse und sein Verhalten akribisch und konkret wie bei einer guten, anschaulichen Reportage.
Das wurde, wie er fand, entsprechend honoriert. Nein, er konnte sich wirklich nicht beklagen darüber, wie sie ihn behandelten. Die Situation hatte nichts Kafkaeskes. Er saß hier, in der Kühle des Vernehmungsraums, versorgt mit Kaffee, Mineralwasser und belegten Brötchen, nicht dank des Waltens irgendwelcher dunkler anonymer Mächte, sondern aus sehr plausiblen Gründen, für die niemand anderes als er selbst verantwortlich war. Schon nach relativ kurzer Zeit war man in einem Stadium angelangt war, in dem der Grundsatz „wir stellen hier die Fragen“ nicht mehr allzu strikt eingehalten wurde. An irgendeinem Punkt, spät in der Nacht, meinte er sogar aus manchen Äußerungen und Fragen ein leises Mitgefühl heraushören zu können. Das war, als sich das Gespräch nur noch um die Person Julia Gerlach drehte – und damit um jenes Hauptthema, zu dem es wesentlich mehr Fragen als Antworten gab, was allerdings nicht auf mangelnde Aussagebereitschaft des Befragten zurückzuführen war.
Der Fall Eva Uhlenbrock, wie sie es formulierten, lag etwas anders. Dass nur er, Robert Kessler, derjenige gewesen sein konnte, in dessen Anwesenheit der angebliche Unfall passiert war, hatte sich binnen Kurzem verifizieren lassen. Dass noch jemand außer der Mieterin in deren Wohnung genächtigt hatte, war für die Polizeibeamten, die vom Rettungsdienst pflichtgemäß informiert worden waren, auf einen Blick zu erkennen gewesen; Hausnachbarn kannten ihn vom sehen, jemand erinnerte sich an seinen Namen, der überdies im Handy der verletzten Frau gespeichert war. Da er samt Adresse auch in ihrem Notizbuch stand, hatten die Potsdamer Beamten ihre Berliner Kollegen auf dem kurzen Dienstweg um Amtshilfe gebeten. Die hatten um die Mittagszeit zwar nicht den Ex-Reporter Kessler antreffen können, da dieser noch nicht aus Potsdam zurück war, aber dafür hatten sie die Bekanntschaft eines ehemaligen Ministerialbeamten namens Bergheim gemacht.
„ Ehrlich gesagt, wir haben es zunächst gar nicht glauben wollen“, sagte der große Mann sinnierend; Kessler schaffte es einfach nicht, sich seinen Namen zu merken. „Als die
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