Die Frau am Tor (German Edition)
sich im normalen Alltag zurechtzufinden, gerade auch bei Abwesenheit ihres Mannes. Und Dr. S. habe jederzeit bereitgestanden, bei ihr zu Hause nach ihr zu sehen und ihr bei Bedarf beizustehen. Frank G. hatte verschiedentlich versucht, sich telefonisch nach ihrem Befinden zu erkundigen sowie seine Heimkehr anzukündigen, sie aber nur einmal über das Festnetz erreicht, über ihr Handy nicht. Daraufhin habe er Kontakt zu Dr. S. aufgenommen.
Über die Art der Verletzung des Arztes wurde nichts erwähnt. Und die Polizei legte Wert auf die Feststellung, dass die verschwundene Frau einstweilen lediglich als Zeugin bei der Aufklärung eines versuchten Tötungsdelikts gesucht werde. In der Wohnung seien mehrere Tage alte, aber auch frischere Essens- und Getränkereste gefunden worden, was darauf hindeutete, dass Julia G. nicht allein in der Wohnung gewesen und dass ihr Aufbruch offenbar sehr plötzlich erfolgt sei, hieß es aber zugleich bedeutungsvoll. Am Schluss des Artikels waren Typ und Kennzeichen ihres Wagens vermerkt sowie eine Telefonnummer, unter der die Polizei Hinweise entgegennahm.
Er schaffte es gerade noch, die Seite wieder zu schließen und aus dem Wohnzimmer in den Flur zu gelangen, mehr taumelnd als gehend, als Eva die Badezimmertür öffnete und rief: “Moment, du kannst gleich...”
Sie kam heraus und hielt inne und musterte ihn mit einem Blick des Erschreckens.
“ Du lieber Himmel, Robert, was ist denn nun schon wieder mit dir los? Du siehst ja ganz kreideweiß aus. Ist dir schlecht?”
Er wollte ihr etwas Beschwichtigendes entgegnen, brachte aber keine Silbe über die Lippen, nur ein Krächzen.
“ Was ist?”, wiederholte sie, jetzt ängstlich, am Rande der Panik. Sie war noch nass, hatte ihr Badetuch nur nachlässig umgeschlungen. Als er immer noch nichts sagte, ergriff sie ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. Das Badetuch löste sich und glitt zu Boden.
“ Nun sag doch endlich etwas! Robert! Soll ich einen Arzt rufen?”
“ Hör auf und lass mich einfach”, sagte er schroff und machte sich los, indem er ihre Handgelenke packte. Er packte sie fest, fast grob - es war das erste Mal, dass er sie so anfasste, und während sie sich mit einem entsetzten “Au, du tust mir weh” zu befreien suchte, schoss ihm die Szene vor sein inneres Auge, wie er die andere Frau gepackt und heruntergedrückt hatte, um sie sodann wimmernd am Straßenrand zurückzulassen. Aber statt seinen Griff zu lockern, verstärkte er ihn noch und drückte fester zu und schob Eva grob zurück ins Badezimmer.
“ Was tust du da? Hör auf!”, schrie sie entsetzt und begann zu schluchzen, doch ihre Laute drang nur von fern, wie durch einen Nebel, zu ihm. Und dann lag sie plötzlich am Boden und war stumm. Er sah ihren nackten Körper auf den Fliesen, die kleine rote Lache unter ihrem Kopf, halb verdeckt von ihrem blonden Haar Fleck.
Die Zeit schien stillzustehen
Sie ist ausgerutscht, dachte er, als er wieder denken konnte – oder zumindest glaubte, es zu können -, so etwas Dummes aber auch. Es war ein Unfall, ja, ein blöder, schlimmer Unfall, denn ich habe doch gar nichts gemacht. Es war ein Unfall – die vier Worte begannen sich in seine Kopf hämmernd in einem Stakkato zu wiederholen. Und die virtuelle Stimme, die sie sprach, klang irgendwann nicht mehr monoton, sondern nahm die Färbung von Julias hysterischer Stimme an.
“ Hör auf!”, sagte jemand, und als er merkte, dass er selbst es war, wurde ihm zugleich bewusst, dass es die Worte waren, die Eva gerade eben noch ausgestoßen hatte. Er spürte ein Würgen im Hals, als er sich auf die Knie nieder ließ und ihre Wangen tätschelte und sie aufforderte, doch nun, bitte, bitte, wieder zu sich zu kommen und aufzustehen, und aus dem Würgen wurde ein Weinen. Mit unsicheren Fingern tastete er nach ihrem Puls, erst am Handgelenk, dann am Hals, konnte aber nicht eindeutig feststellen, ob da etwas pochte oder nicht. Er nahm das am Boden liegende Badetuch, dazu noch ein Handtuch vom Halter, und schob es ihr beides unter den Kopf. Als er die Hand zurückzog, bemerkte er Blut daran. Es war nicht sonderlich viel, aber genug, um die Kuppen seiner Finger zu nässen.
Auf einmal meldete sich sein Verstand zurück, mit voller, fast schmerzhafter Wucht, und befahl ihm, etwas zu tun, jetzt, sofort. Er nahm das Telefon von der Station, um den Notruf zu wählen, kam aber gleich wieder ins Zaudern: er hatte ja nicht einmal etwas an außer der Unterhose, so konnte er sich doch
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