Die Frau aus Alexandria
weniger angenehmen Seiten der Menschennatur erfahren. Sofern ich dich mit meiner Bitte in eine schwierige Lage bringe und du sie abschlagen musst, tu mir aus alter Freundschaft den Gefallen, das offen zu sagen.«
»Nein, so ist das nicht«, sagte er rasch. »Ich – ich dachte nur, dass es dir unangenehm und schmerzlich sein könnte zu sehen, dass sich Ryerson stark ... verändert hat. Möglicherweise wirst du den Eindruck gewinnen, dass er unter Umständen doch schuldig ist. Ich ...«
»Um Gottes willen, Arthur!«, sagte sie ungeduldig. »Hast du mich etwa in den angenehmen Sommern unserer Vergangenheit mit einer anderen verwechselt? Ich habe achtundvierzig auf den Barrikaden von Rom gekämpft. Mir sind unangenehme Dinge keineswegs unbekannt! Ich habe Elend, Verrat und Tod in mancherlei Form miterlebt — zum Teil in den höchsten Kreisen! Lässt du mich zu Saville Ryerson – oder nicht?«
»Aber natürlich, meine Liebe. Ich werde gleich heute Nachmittag die nötigen Anordnungen treffen. Vielleicht erweist du mir die Ehre, mit mir zu Mittag zu essen? Dabei können wir uns über die Gesellschaften unterhalten, an denen wir teilgenommen haben, als die Sommer länger waren – und, wie es scheint, wärmer als jetzt.«
Sie lächelte ihm mit ungeheuchelter Herzlichkeit zu, wobei sie an die Eibenlaube und eine bestimmte Rabatte dachte, in der blau der Rittersporn geleuchtet hatte. »Danke, Arthur. Das wäre mir ein ausgesprochenes Vergnügen.«
Ein Beamter führte sie in den Raum, in dem sie mit Ryerson zusammentreffen sollte, und zog sich dann zurück. Sie war allein. Es war kurz vor sechs Uhr, und die Gaslampen brannten bereits, denn das einzige Fenster war klein und lag ziemlich hoch.
Sie musste nicht lange warten, bis sich die Tür erneut öffnete und Ryerson eintrat. Obwohl er müde und blass aussah und ohne das übliche makellose Hemd mit Krawatte recht ungepflegt wirkte, war er nach wie vor eindrucksvoll und hielt sich aufrecht. Die Angst, die sie in seinen Augen erkannte, als sich die Tür schloss und er auf sie zutrat, hatte ihn offenkundig nicht gebeugt.
»Guten Abend, Saville«, sagte sie mit beherrschter Stimme. »Nehmen Sie doch Platz. Ich möchte mir nicht den Hals ausrenken müssen, um Ihr Gesicht sehen zu können.«
»Warum sind Sie gekommen?«, fragte er mit trauriger Miene, als er mit leicht gesenkten Schultern ihrer Aufforderung nachkam. »Das hier ist kein Aufenthaltsort für Sie, und Sie schulden mir diesen Besuch auch nicht. Bestimmt gehört es nicht zu Ihren Kreuzzügen im Interesse sozialer Gerechtigkeit, dass Sie die Schuldigen aufsuchen.« Er mied ihren Blick nicht. »Und schuldig bin ich, Vespasia. Es war meine Absicht, gemeinsam mit Ayesha den Toten in den Park zu bringen und dort abzuladen. Ich hatte ihn ja schon auf die Schubkarre gelegt ... auch die Waffe habe ich vom Boden aufgehoben. Ich weiß Ihre Güte zu schätzen, aber ich fürchte, Sie deuten die Fakten falsch.«
»Großer Gott, Saville!«, verwies sie ihn. »Ich bin kein Dummkopf! Mir ist klar, dass Sie die Leiche dieses Burschen aufgehoben haben und so weiter! Thomas Pitt ist mein Großneffe — natürlich durch Heirat. Möglicherweise weiß ich mehr über den Fall als Sie selbst!« Befriedigt sah sie, dass er aufrichtig verblüfft wirkte.
»Und wessen Heirat war das, um alles in der Welt?«, fragte er.
»Dumme Frage — seine natürlich!«, gab sie zurück. »Meine wird es jawohl kaum gewesen sein!«
Ein Lächeln löste seine Züge, und sogar die Anspannung seiner Schultern ließ ein wenig nach. »Auch wenn Sie mir nicht helfen können, Vespasia, so bringen Sie doch Licht in meine Finsternis, und dafür danke ich Ihnen.« Er machte eine Handbewegung, als wolle er sie über den zwischen ihnen stehenden Tisch hinweg berühren, überlegte es sich dann aber anders und zog die Hand zurück.
»Das freut mich, ist aber nebensächlich. Ich würde liebend gern etwas weit Nützlicheres tun, was eine dauerhaftere Wirkung hätte. Thomas ist nach Alexandria gereist, um zu sehen, was er dort über Ayesha Sachari und Edwin Lovat in Erfahrung bringen kann — sofern es da etwas zu erfahren gibt.« Sie sah, wie er sich erneut anspannte. »Haben Sie etwa Angst vor der Wahrheit?«
»Ganz und gar nicht!«, sagte er ohne zu zögern, fast bevor sie ihren Satz beendet hatte.
»Gut!«, fuhr sie fort. »Dann sollten wir die Dinge beim Namen nennen und auch unangenehmen Tatsachen nicht ausweichen. Wo haben Sie Miss Sachari kennen
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