Die Frau aus Alexandria
Vermutlich nicht viel. Er kannte dort niemanden — verstand die Sprache nicht, wusste nichts von den Überzeugungen der Menschen, den verworrenen Beziehungen von Schuld und Hass zwischen ihnen, den Verbindungen, die Geld und Glaube stiften. Sofern Lovat oder die Frau nicht außergewöhnlich sorglos gewesen waren, dürfte es für einen
ausländischen Polizeibeamten, der nicht einmal wusste, wonach er suchte, nicht viel zu finden geben.
Diese Überlegung veranlasste sie zu der Frage, warum Narraway ihn dorthin geschickt haben mochte. Welchen Zweck verfolgte er damit, dass sich Pitt in Alexandria aufhielt – oder ging es eher darum, dass er ihn nicht in London haben wollte?
Sie blieb eine weitere Viertelstunde bei Ryerson, erfuhr aber weiter nichts, was ihr hätte nützen können. Statt ihm mit heuchlerischen Worten Trost zu spenden, fragte sie lediglich, ob sie ihm etwas schicken könne, um ihm das Leben dort etwas erträglicher zu machen.
»Nein, danke«, sagte er sofort. »Ich habe alles, was ich brauche. Aber ... aber es wäre mir äußerst lieb, wenn Sie dafür sorgen könnten, dass Ayesha etwas bekommt, was ihre Lage erleichtert. Zumindest saubere Wäsche, Toilettenartikel ... Ich — eine andere Frau hätte ...«
»Selbstverständlich«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich nehme zwar nicht an, dass man mich zu ihr lässt, werde ihr aber diese Dinge schicken lassen. Da ich mir gut vorstellen kann, was ich in einer solchen Situation gern hätte, werde ich dafür sorgen, dass sie es bekommt.«
Erleichterung zeigte sich auf seinen Zügen. »Danke ...« Seine Stimme versagte vor Rührung. »Ich bin Ihnen zutiefst ...«
»Ach was!«, tat sie seinen Dank ab. »Das ist doch nicht der Rede wert.« Sie war bereits aufgestanden. »Ich höre, dass man kommt, um mich zu holen.« Sie sahen einander in die Augen. Sie wollte noch etwas sagen, aber die Worte erstarben ihr im Mund. Mit einem Lächeln wandte sie sich zum Gehen.
Es kostete sie einen ganzen Tag, ein wenig Schmeichelei und einen Großteil ihres betörenden Charmes, bis sie nach aufwändigen Nachforschungen – in deren Verlauf sie wieder die eine oder andere alte Dankesschuld eintreiben musste — wusste, wo sie Victor Narraway finden und wie sie es so einrichten konnte, dass sie bei einem Empfang mit ihm zusammentraf. Ursprünglich hatte sie die
Absicht gehabt, nicht hinzugehen, und es war ihr unangenehm, dass sie einen Vorwand erfinden musste, um ihre Absage der Einladung rückgängig zu machen.
Wegen dieser unbehaglichen Situation war sie der Ansicht, sie müsse sich entweder sehr unauffällig und konservativ oder so gewagt und schockierend wie möglich kleiden. Mochte man sich ruhig das Maul über ihren Sinneswandel zerreißen ... Vermutlich würde ihr Gespräch mit Narraway weniger Aufmerksamkeit erregen und man sie weniger unterbrechen, wenn sie sich für zurückhaltende, gedämpfte Farben entschied, doch auffallen würde sie auf jeden Fall, ganz gleich, was sie trug. So entschied sie sich für die andere Möglichkeit und ließ sich von ihrer Zofe ein indigofarbenes Seidenkleid herauslegen, das sie für eine ganz besondere Gelegenheit gekauft hatte. Der Stoff war so fein, dass er in der Luft zu schweben schien, und der tiefe Ausschnitt war wie die Taille in einem mittelalterlichen Vorbildern nachempfundenen, üppigen Muster mit Silberfaden und Perlen bestickt. Als einzigen Schmuck würde sie Perlenohrringe dazu tragen.
Während sie sich vor dem Spiegel betrachtete, war sie selbst von dem Eindruck überrascht, den sie machte. Gewöhnlich entschied sie sich für aristokratische Zurückhaltung: Satin und Spitze in neutralen Tönen, die zu ihrem silbernen Haar und ihren hellen Augen passten. Doch das hier war großartig, wirkte mit seiner einfachen Linie atemberaubend, und die dunkle Farbe war wie ein Flüstern der Nacht, elementar und geheimnisvoll.
Sie traf unbeabsichtigt ziemlich spät ein, und ihr Eintreten erregte beträchtliches Aufsehen. So auffällig in Erscheinung zu treten entsprach nicht ihrer Gewohnheit. Sie hatte die Zeit für die Fahrt zu großzügig kalkuliert und, da sie auf keinen Fall zu früh kommen wollte, ihren Kutscher angewiesen, einmal um den Hyde Park zu fahren. Wegen eines Verkehrsunfalls — vermutlich hatte eine Kutsche ein Rad verloren oder dergleichen – war die Straße versperrt, und so war sie später eingetroffen als geplant.
Während sie allein in den Raum trat, erstarben alle Gespräche mit einem Schlag. Manche
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