Die Frau aus Alexandria
der Gäste, vor allem Männer, starrten
sie ungeniert an. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob es ein Fehler gewesen war, sich für das Kleid zu entscheiden. War sie für einen solch üppigen Farbton vielleicht zu blass?
Sie sah, wie der Prinz von Wales die Augen aufriss — erst vor Verblüffung, dann aber voll Billigung. Ein jüngerer Mann an seiner Seite, den sie nicht kannte, räusperte sich, ohne den Blick von ihr zu nehmen.
Die Gastgeberin begrüßte sie und stellte sie nach wenigen Minuten dem Prinzen vor. Offensichtlich hatte er den Wunsch geäußert, mit ihr zu sprechen. Zwar kannten sie einander schon seit vielen Jahren, doch liefen solche Begegnungen nach wie vor nach allen Regeln des Hofzeremoniells ab. Man konnte nicht einfach auf einen Kronprinzen zugehen, das ziemte sich nicht.
Es dauerte über eine Stunde, bis sie eine Möglichkeit fand, ohne Zeugen mit Victor Narraway zu sprechen.
Mit den Worten: »Guten Abend, Victor«, trat sie auf ihn zu und legte mit dieser Begrüßung die Bedingungen fest, unter denen das Gespräch ablaufen würde. Auch wenn sie ihn nicht besonders gut kannte, war ihr durchaus klar, wer er war und was man in den höchsten politischen Kreisen von seinen Vorzügen und Nachteilen hielt. Doch über den Privatmann wusste sie kaum etwas, zumal er zu den Menschen gehörte, die sich nahezu vollständig aus der Öffentlichkeit heraushielten. Wichtig war er ihr wegen Ryerson und, wie sie sich jetzt eingestand, mehr noch, weil Thomas Pitts Zukunft in seinen Händen lag.
»Guten Abend, Lady Vespasia«, gab er zurück. Auch wenn sein Blick leicht belustigt wirkte, erkannte sie darin waches Misstrauen. Er war nicht von so schlichtem Gemüt, dass er angenommen hätte, ihre Begegnung sei ein bloßer Zufall.
Es gab keine Zeit zu verlieren. Jeden Augenblick musste sie damit rechnen, dass andere Gäste zu ihnen traten. »Ich war gestern bei Saville Ryerson«, begann sie. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht im Geringsten. »Er wird Ihnen nichts sagen, und zwar vermutlich zum Teil einfach deshalb, weil er nichts weiß. Die Annahme, die Frau könnte versucht haben, ihn in der Hoffnung
zugrunde zu richten, dass ein anderer seine Stelle einnehmen würde, der den Interessen Ägyptens wohlwollender gegenübersteht, ergibt keinen Sinn. Ein solcher Mensch existiert nicht, und das muss ihr ebenso klar gewesen sein wie uns.«
»Gewiss«, gab er ihr Recht. Sofern er den Wunsch verspürte zu erfahren, was sie von ihm wollte, würde er nie und nimmer zulassen, dass sie das merkte. Er blieb höflich interessiert, wie sich das gegenüber einer älteren Dame gehört, die einen hohen gesellschaftlichen Rang einnimmt, aber davon abgesehen nicht weiter bedeutend ist.
Das ärgerte sie. »Behandeln Sie mich nicht wie einen Trottel!«, sagte sie leise, aber mit schneidender Schärfe in der Stimme. »Ich weiß, dass Sie Thomas nach Alexandria geschickt haben. Was zum Kuckuck versprechen Sie sich davon? Da liegt doch die Vermutung nahe, dass er Ihnen hier in London im Wege war.« Befriedigt sah sie, dass sich sein Körper kaum wahrnehmbar anspannte.
»Lovat und die Sachari kannten einander aus Alexandria«, sagte er. Die Worte klangen harmlos, doch sein Blick drang tief in ihre Augen. Unübersehbar wollte er erkunden, welchen Zweck sie verfolgte. »Diesem Punkt nicht nachzugehen wäre ein unentschuldbares Versäumnis.«
»Und was soll er da ermitteln?«, fragte sie mit leicht gehobenen Brauen. »Dass die beiden eine Affäre hatten? Das nimmt doch ohnehin alle Welt an. Ryerson liebt sie, und ich vermute, dass er keinen Wert darauf legt, etwas über ihre früheren Bewunderer zu erfahren. Andererseits ist er nicht so naiv zu glauben, es hätte keine gegeben.«
Sie verstummte, als eine zierliche Dame in einem pfirsichfarbenen Seidenkleid an der Seite eines Herrn mit Stirnglatze an ihnen vorüberkam.
Narraway lächelte in sich hinein, bewahrte aber nach außen hin vollkommene Haltung.
Vespasia wünschte, dass sie ihn besser gekannt hätte. Seine Unzugänglichkeit war herausfordernd. Sie überlegte, dass sie ihn in jüngeren Jahren wohl recht anziehend gefunden hätte. Diese Vorstellung
belustigte sie. Hinter seiner kalten Intelligenz verbargen sich Gefühle, doch wusste sie nicht, welcher Art sie waren. Gehörte er zu den Menschen, die den Mut haben, zu ihren Ansichten zu stehen? Wegen der Macht, die er über Pitt hatte, war ihr die Antwort auf diese Frage wichtig.
»Wenn Sie vermuten, es könnte
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