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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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gelernt?«
    »Wie?«, fragte er verblüfft.
    »Saville!«, sagte sie ungeduldig. »Sie sind ein Mann von Mitte fünfzig, der dem englischen Kabinett angehört; die Frau ist Ägypterin und — wie alt, fünfunddreißig? Die Kreise, in denen Sie beide verkehren, berühren sich nicht, geschweige denn, dass sie sich überschneiden würden. Sie vertreten im Unterhaus den Wahlkreis Manchester, wo Baumwolle verarbeitet wird, während die Frau aus einem Teil Ägyptens kommt, in dem man Baumwolle anbaut. Stellen Sie sich nicht unwissend!«
    Seufzend fuhr er sich mit der Hand durch das dichte Haar. »Natürlich ist sie ursprünglich wegen der Baumwolle auf mich verfallen«, sagte er matt. »Und natürlich sollte ich dafür sorgen, dass die Industrie in Manchester vermindert wird und wir in ihrer Heimat investieren, damit die Leute dort ihre Baumwolle selbst spinnen und weben können. Würden Sie von einer ägyptischen Patriotin etwas anderes erwarten?« Er sah sie herausfordernd mit Augen an, die so dunkel brannten, als wären es die der Ägypterin.
    Sie lächelte. »Ich habe weder etwas gegen Patrioten, Saville, noch gegen ihre Forderung, dem eigenen Volk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wäre ich an der Stelle dieser Frau, würde ich hoffentlich ihren Mut und die Leidenschaft aufbringen, das Gleiche zu tun. Doch wie gerecht eine Sache auch immer sein mag, so manches, was in ihrem Namen unternommen wird, lässt sich nicht rechtfertigen.«
    »Sie hat Lovat nicht umgebracht«, stellte er sachlich fest.
    »Vermuten Sie das, oder wissen Sie es?«, fragte sie.
    Eine Weile hielt er dem stetigen Blick ihrer silbergrauen Augen stand, dann sah er beiseite. »Ich bin fest davon überzeugt, Vespasia. Sie hat mir geschworen, dass es sich so verhält. Wenn ich ihr nicht traue, bedeutet das, dass ich an allem zweifle, was ich liebe und schätze und was mir das Leben kostbar macht.«
    Sie setzte zum Sprechen an, merkte dann aber, dass sie nichts hätte sagen können, was ihm helfen oder nützen konnte. Er war ein impulsiver Mensch, der seine Natur lange verleugnet hatte und jetzt, da der Damm gebrochen war, voll Leidenschaft liebte. »Wer war es dann?«, fragte sie stattdessen. »Und was ist der Grund?«
    »Ich habe keine Ahnung«, gab er ruhig zurück. »Aber bevor Sie mit der Vermutung kommen, jemand habe die Sache eingefädelt, damit ich mit Schande bedeckt zurücktreten muss, sollten Sie bedenken, dass das der Baumwollindustrie Ägyptens kaum nützen würde. Jeder, der mir im Amt folgt, dürfte weniger bereit sein, diesen Leuten zu helfen, als ich es war. Kein einzelner Mensch hat die Macht, eine ganze Industrie umzukrempeln, ganz gleich, wie dringend
er das möchte. Mittlerweile hat Ayesha das wohl auch eingesehen, auch wenn sie anfangs gemeint hat, sie könne mich überreden, eine solche Reform in die Wege zu leiten.«
    »Warum war sie dann nach wie vor hier in London?« Sofern Vespasia mit ihrem Besuch nicht nur Trost spenden, der ohnehin nicht länger vorhalten würde, als sie sich in diesem Raum befand, sondern etwas erreichen wollte, musste sie rücksichtslos sein.
    »Es war mein Wunsch«, gab er zur Antwort. Dann fuhr er zögernd fort, als fürchte er mehr oder weniger, sie werde ihm nicht glauben: »Und ich bin überzeugt, dass sie mich ebenso aufrichtig liebt wie ich sie.«
    Zu ihrer Überraschung zweifelte sie nicht an der Wahrheit seiner Worte, jedenfalls, was seine Gefühle betraf. In Bezug auf Miss Sachari war sie nicht so sicher, doch wie sie Ryerson ansah, wirkte er überzeugend, unerschütterlich und auf eine Weise sicher, dass sie sich gut vorstellen konnte, wie sich eine junge Frau angesichts eines so intensiven Gefühls über die Schranken von Alter, Kultur und gegebenenfalls sogar der Religion hinwegsetzte. Auch glaubte sie, dass Ryerson eher die Verhandlung vor dem Schwurgericht bis hin zu einer Verurteilung auf sich nehmen, als einen Vertrauensbruch an seiner Geliebten begehen würde. Er war schon immer ein Mann des Absoluten gewesen, seit sie ihn kannte, und dies Wesensmerkmal hatte sich im Laufe der Zeit nicht etwa abgeschwächt, sondern war eher noch mehr hervorgetreten. Zwar war er weiser geworden, weniger aufbrausend und reifer als in jungen Jahren, hatte gelernt, abgewogene Urteile zu fällen, doch wenn es darauf ankam, würde sein Herz stets über seinen Kopf bestimmen. Aus diesem Holz waren Märtyrer geschnitzt, Menschen, die sich für eine Sache aufopferten.
    Was Pitt wohl in Alexandria finden mochte?

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