Die Frau aus Alexandria
recht zu wissen, wie er sie anreden sollte. Ihre Vertrautheit lag viele Jahre zurück.
Um ihm über die Peinlichkeit hinwegzuhelfen, sagte sie schnell: »Wie großzügig von dir, mich so rasch zu empfangen, wo dir sicherlich klar ist, dass ich einen Gefallen von dir erwarte — sonst wäre ich nicht in so unvornehmer Eile gekommen.« Wie immer trug sie ihre Lieblingsfarben Taubengrau und Elfenbein, und die Perlenkette um ihren Hals warf einen sanften Schimmer auf ihre Züge. Die Jahre hatten sie gelehrt, dass es Materialien und Farben gibt, die nicht einmal der schönsten und jüngsten Frau schmeicheln, und sie wusste, was ihr am besten stand.
»Dich zu sehen, ganz gleich, aus welchem Anlass, ist immer ein Vergnügen«, sagte er. Auch wenn er das wahrscheinlich nur tat, weil es sich so gehörte, lag in seinen Worten eine Aufrichtigkeit, der man unwillkürlich Glauben schenken musste. »Bitte ...« Er wies auf den Besuchersessel neben seinem Schreibtisch und wartete, bis sie Platz genommen und mit einer einzigen Handbewegung ihre Röcke so geordnet hatte, dass sie faltenfrei fielen. »Was kann ich für dich tun?«, erkundigte er sich.
Sie hatte eine Weile hin und her überlegt, ob sie sich dem Thema auf Umwegen nähern oder den Stier bei den Hörnern packen
sollte. Soweit sie sich erinnerte, war Arthur nicht unbedingt ein Kirchenlicht gewesen, aber vielleicht hatte sich das im Lauf der Jahre geändert. Auf jeden Fall war er nicht mehr in sie verliebt, und das allein schon dürfte sein Urteilsvermögen schärfen. So beschloss sie, ohne Umschweife auf ihr Ziel loszugehen. Sie hielt den Versuch, ihn in die Irre zu führen, für kränkend. Aber ebenso kränkend wäre es wohl, wenn sie einfach mit der Tür ins Haus fiele, ohne zumindest ein Lippenbekenntnis zu dem abzulegen, was in der Vergangenheit geschehen war.
»Ich habe seit unserer letzten Begegnung einige außergewöhnliche Verwandte hinzugewonnen«, sagte sie, als gebe es auf der Welt kein natürlicheres Thema. »Natürlich angeheiratet. Ich nehme an, du erinnerst dich noch an meinen Großneffen George Ashworth, der leider nicht mehr lebt?«
Sogleich legte sich eine Betrübnis auf Arthurs Züge, die durchaus echt wirkte. »Das tut mir sehr Leid! Eine wahre Tragödie.«
Seine Worte ersparten ihr langatmige Erklärungen.
»Tragisch war es in der Tat«, sagte sie mit dem Anflug eines trübseligen Lächelns. »Aber seine Eheschließung hat mir eine Großnichte eingetragen, deren Schwester mit einem Kriminalbeamten verheiratet ist – ein bemerkenswert fähiger Mann.« Er sah sie verblüfft an. »Von Zeit zu Zeit war ich in bestimmte Fälle mit einbezogen und habe gelernt, manche Ursachen für ein Verbrechen zu verstehen, was früher nicht der Fall war. Ich nehme an, dir ist es ähnlich ergangen ...« Sie beendete den Satz nicht.
»Ja, Polizeiarbeit ist ...« Er hob die Schultern. Wieder fiel ihr auf, dass er deutlich schmaler geworden war. Es stand ihm aber durchaus gut.
»Eben!«, stimmte sie mit Nachdruck zu. »Deshalb habe ich dich auch aufgesucht. Du bist in der einzigartigen Lage, mir einen kleinen Dienst erweisen zu können.« Bevor er fragen konnte, worum es dabei ging, fuhr sie rasch fort: »Bestimmt setzt dir diese elende Geschichte von Eden Lodge ebenso zu wie mir. Ich kenne Saville Ryerson seit vielen Jahren ...«
Arthur schüttelte den Kopf.»Ich kann dir nichts sagen, Vespasia, und zwar einfach deshalb, weil ich nichts weiß.«
»Verständlich«, sagte sie mit einem Lächeln. »Ich will auch keineswegs Informationen, mein Lieber. So etwas von dir zu erwarten wäre ungehörig. Ich möchte einfach ein Gespräch mit Ryerson, unter vier Augen, und möglichst bald.« Sie hoffte, keine Erklärung für ihren Wunsch abgeben zu müssen, hatte sich aber vorsichtshalber eine zurechtgelegt.
»Das wäre aber äußerst unangenehm für dich«, sagte er unbehaglich. »Außerdem kannst du mit Sicherheit nichts für ihn tun. Er hat alles, was er braucht, und man gewährt ihm jede statthafte Erleichterung. Immerhin lautet die Anklage auf Mittäterschaft in einem Mordfall. Das ist immer ein schwerwiegender Vorwurf, und für einen Mann in seiner Position, einen Menschen, der in der Öffentlichkeit so großes Vertrauen genießt, ist er vernichtend.«
»All das ist mir bewusst, Arthur. Seit der arme George tot ist, habe ich, wie gesagt, dadurch, dass ich meinem angeheirateten Großneffen hin und wieder mit seinen Fällen behilflich war, sehr viel über die
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