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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Kletterpflanzen sacht in der leisen Brise schwankten, die den Geruch von Gewürzen und vom Meer den nach Salz herübertrug, überlegte er, dass er sie inzwischen gänzlich anders einschätzte als am Anfang. Er sah sie als willensstarken, intelligenten Menschen, eine Frau, die für Überzeugungen kämpfte, die er gut nachvollziehen konnte. Was würde er empfinden, wenn beispielsweise England von einem anderen Volk besetzt, ja, geradezu beherrscht würde, dessen Angehörige nicht nur anders sprachen und aussahen, sondern auch einen anderen Glauben und eine andere kulturelle Überlieferung hatten, ein vergleichsweise unreifes Volk, dessen Menschen noch Barbaren waren zu einer Zeit, da das eigene Volk bereits zivilisiert war, bedeutende Bauten errichtet, Dichter hervorgebracht und gewaltige Pläne verwirklicht hatte?
    Der Wind trug Gelächter herüber. Erst erkannte er die Stimme eines Mannes, dann die einer Frau und schließlich die Melodie eines Saiteninstruments voll sonderbarer Halbtöne. Er legte das Jackett ab, das er zum Abendessen getragen hatte, um der Form zu genügen. Selbst um diese Zeit war es noch so warm, dass das Baumwollhemd vollauf genügte.
    Er ließ den Blick schweifen, versuchte sich möglichst viel einzuprägen, um Charlotte davon berichten zu können: die Geräusche, die so völlig anders waren als in England, die Luft, die man fast auf der Haut spüren konnte, die schweren Gerüche, auch nach Schweiß, sodass es einem mitunter fast den Atem benahm, und natürlich die allgegenwärtigen Fliegen. Der Wind war ohne jede Schärfe. Er wirkte träge wie alles um ihn herum, doch war ihm klar, dass überall Gefahren lauerten, Ressentiment hinter lächelnden Mienen verborgen lag.
    Unwillkürlich kamen ihm die Völker in den Sinn, die im Laufe der Jahrhunderte hierher gekommen waren, Welle auf Welle – Soldaten, religiöse Eroberer, Forscher, Kaufleute oder Siedler. Sie alle hatte die Stadt in sich aufgenommen, und alle hatten deren Gesicht damit verändert, dass sie geblieben waren.
    Jetzt also war die Zeit seines eigenen Volkes gekommen, die Zeit der Engländer, die hier mit ihrer bleichen Haut, ihrer angelsächsischen Stimme, ihrer übertrieben aufrechten Haltung und ihren unerschütterlichen Vorstellungen von Recht und Unrecht immer fremdländisch wirken würden. Dass sie dennoch blieben, war zugleich bewundernswert und widersinnig, vor allem aber unfassbar ungehörig. Alexandria war eine ägyptische Stadt, und uneingeladen hatten sie kein Recht, sich dort aufzuhalten.
    Er dachte an Trenchard und dessen unübersehbare Liebe zu diesem Land und seinen Menschen. Nach ihrem gemeinsamen Einkauf im Basar hatte er Pitt ein wenig über sein Leben im Lande berichtet. Wie es aussah, besaß er in England keine nahen Angehörigen mehr, und die Frau, die er geliebt, wenn auch nicht geheiratet hatte, war Ägypterin. Er hatte nur kurz über sie gesprochen. Sie war vor nicht einmal einem Jahr bei einem Unfall ums Leben
gekommen, über den er nicht reden mochte. Selbstverständlich war Pitt nicht weiter in ihn gedrungen.
    Jetzt stand Pitt in einem Aufruhr der Gefühle da. Es hatte keinen Sinn, zu Bett zu gehen, denn er wusste, dass ihn der Schlaf fliehen würde. Er konnte Miss Sachari gut verstehen – hier ihre Vaterlandsliebe, ihre Empörung über die Art, wie man ihr Volk ausraubte, über die Armut und die unnötige Unwissenheit, und dort in London der Widerstreit der Gefühle wegen ihrer Beziehung zu Ryerson.
    Aber ob das zum Mord geführt hatte? Noch hatte er sich nicht von dem Gedanken gelöst, dass sie die Tat begangen hatte. Wenn nicht sie es gewesen war — wer dann?
    Gleich am nächsten Vormittag würde er sich daran machen, möglichst viel über Edwin Lovat in Erfahrung zu bringen. Es musste noch Menschen geben, die sich an ihn erinnerten, die genauere, lebendigere und möglicherweise auch ehrlichere Erinnerungen an ihn hatten als bloße Archivunterlagen.
    Er wandte sich vom Fenster ab und machte sich zum Schlafengehen bereit.
     
    Es dauerte nicht lange, bis er wusste, wo Lovat den größten Teil seiner Zeit verbracht hatte. Auf dem Weg dorthin kam er durch den Teppichbasar, dessen vielleicht zehn bis zwölf Meter breiten festgetretenen Lehmboden in einer Höhe von etwa drei Stockwerken ein riesiges Balkendach überspannte. Da dessen Zwischenräume mit Latten ausgefüllt waren, unterbrachen immer wieder helle Lichtflecken den Schatten, der auf den Boden fiel. Zusätzlich befanden sich über allen

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