Die Frau aus Alexandria
nehmen?«
»So sieht es aus«, sagte Pitt.
Narraway seufzte. Auf seinen Zügen lag jetzt Trauer. »Wie naiv«, murmelte er.
Pitt hatte das unabweisbare Gefühl, er meine damit weit mehr als die bloße Unwissenheit der Ägypterin in Bezug auf die Mechanismen der Politik. Zwar saß er bequem in seinen Sessel zurückgelehnt, schien aber innerlich bis zum Zerreißen gespannt. »Sie haben gesagt, die Frau sei gebildet. Auf welchen Gebieten?«, wollte er wissen.
»Geschichte, Sprachen, arabische Kultur«, gab Pitt zur Antwort. »Ihr Vater war ein Gelehrter, und sie war das einzige Kind. Allem Anschein nach hat er ihre Gesellschaft äußerst anregend gefunden und daher einen großen Teil seines Wissens an sie weitergegeben.«
Narraways Gesichtsmuskeln spannten sich an. Er schien Pitts Worten weit mehr zu entnehmen als die einfachen Tatsachen, die er berichtete. Dachte er daran, dass ihr die Gesellschaft eines älteren Mannes angenehm war, weil ein solcher sie aufgezogen hatte und sie daher sowohl an die Vorzüge wie auch die Nachteile einer solchen Beziehung gewöhnt war? Pitt fragte sich, ob diese Art des Aufwachsens für die junge Frau gleichsam eine Vorübung gewesen war, die sie in den Stand gesetzt hatte, Ryerson zu umgarnen, ohne dass er sie für zu jung, zu unkultiviert oder zu ungeduldig hielt.
Oder hatte sie bewirkt, dass ihr junge Männer oberflächlich und nicht feinfühlig genug erschienen und sie sich in ihrer Gegenwart nicht wohlfühlte? War es möglich, dass sie Ryerson tatsächlich so sehr liebte, wie er vermutete?
Warum aber um alles in der Welt hätte sie dann Lovat erschießen sollen? War ihm in Alexandria doch etwas Wesentliches entgangen?
Narraway, der ihn aufmerksam beobachtete, fragte: »Was gibt es, Pitt?« Er beugte sich vor. Seine Hand zitterte kaum wahrnehmbar.
Pitt spürte deutlich, dass in seinem Gegenüber Empfindungen lebendig waren, die allein mit den ihm bekannten Fakten nicht zu erklären waren. Es war ihm zuwider, mit einem Vorgesetzten arbeiten zu müssen, der ihm offenkundig so wenig vertraute, ganz gleich, was der Grund dafür sein mochte. Stand dahinter die Sorge um seine eigene Sicherheit oder die eines anderen Menschen? Oder wollte Narraway etwas in sich selbst schützen, wovon sich Pitt kein Bild zu machen vermochte?
»Nichts, was auch nur das Geringste mit Lovat oder Ryerson zu tun hätte«, gab er zur Antwort. »Sie war eine geradezu schwärmerisch begeisterte Anhängerin eines der am Orabi-Aufstand Beteiligten. Dieser ältere Mann, in den sie sich verliebt hatte, ist zum Verräter an ihr wie auch an der gemeinsamen Sache geworden. Das hat ihr schwer zu schaffen gemacht.«
Narraway holte tief Luft und stieß sie leise wieder aus. »Aha.« Dann schwieg er.
Pitt wartete eine Weile, überzeugt, er werde weitersprechen. In Narraways Kopf schienen fertige Sätze, ja, ganze Absätze bereit zu liegen, an die er nicht herankam.
Doch als Narraway schließlich den Mund öffnete, kam er auf ein völlig anderes Thema zu sprechen. »Und was ist mit Lovat? Haben Sie jemanden gefunden, der ihn gekannt hat? Es muss doch auf jeden Fall mehr geben als die schriftlichen Unterlagen, die wir hier haben! Was haben Sie denn um Gottes willen die ganze Zeit da unten getrieben?«
Pitt schluckte seinen Zorn herunter und schilderte knapp, was er getan und auf welche Weise er Edwin Lovat und dessen Laufbahn im englischen Heer nachgespürt hatte. Wieder hörte Narraway mit irritierendem Schweigen zu.
»Ich bin nicht auf den geringsten Hinweis gestoßen, der ein Mordmotiv nahe legen würde«, endete Pitt. »Lovat scheint ein ganz gewöhnlicher Offizier gewesen zu sein, zwar durchaus fähig, aber keineswegs brillant, ein anständiger Mann, der sich niemanden wirklich zum Feind gemacht hat.«
»Und der Grund seiner Dienstunfähigkeit?«, fragte Narraway.
»Fieber«, erwiderte Pitt. »Malaria, wie man mir gesagt hat, nichts Besonderes, und er hat sie sich dort nicht als Einziger eingehandelt. Man hat ihn nach Hause entlassen, und zwar ehrenhaft. Seine Laufbahn weist nicht den kleinsten Knick auf, und auf seinem Namen liegt nicht der geringste Makel.«
»Das weiß ich bereits«, sagte Narraway matt. »Seine Schwierigkeiten scheinen nach seiner Rückkehr angefangen zu haben.«
»Was für Schwierigkeiten?«, wollte Pitt wissen.
Narraway sah ihn tadelnd an. »Ich dachte, Sie hätten sich nach dem Mann erkundigt ...«
»Natürlich«, gab Pitt bissig zurück. »Das habe ich Ihnen doch gesagt, falls
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