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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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aufrechten Gestalt nach, die mit beinahe militärischer Eleganz über den regennassen Gartenpfad der Straße entgegenstrebte.

KAPITEL 10
    P itt dankte Trenchard für seine Hilfe und verließ Alexandria mit einem so großen Bedauern, dass es ihn selbst überraschte. Die samtenen Nächte mit den bleichen Sternen am Himmel würden ihm fehlen, wie auch der Wind, der vom Mittelmeer herüberwehte und den Geruch nach allerlei Gewürzen und dem Schmutz der heißen Straßen überlagerte wie auch die Mischung von Musik und Stimmen, die er nicht verstand, die bunten Farben und die Fülle der Waren in den Basaren. Dafür gab es in London weniger Stechmücken und keine Skorpione. Er durfte sich darauf verlassen, dass ihm im bevorstehenden Winter keine beklemmende Hitze den Schweiß über den Körper laufen ließ oder ihn das Licht der Sonne so blendete, dass er beständig die Augen zusammenkneifen musste.
    Außerdem würde er nicht mehr fortwährend das Gefühl haben, Störenfried in einem Lande zu sein, dem die Angehörigen seines Volkes fremd und unwillkommen waren, und auch nicht mehr die Last des schlechten Gewissens spüren, einer von denen zu sein, die zu der dort herrschenden entsetzlichen Armut beigetragen hatten. Selbstverständlich existierte auch in England Armut, auch dort verhungerten Menschen, erfroren oder erlagen tückischen Krankheiten. Doch das war sein eigenes Volk, er war einer von ihnen — vor allem aber trug er keine Schuld daran.
    Während er an Deck des Schiffes stand und zusah, wie das Wasser um den Rumpf herum aufgewirbelt wurde und Alexandria allmählich am Horizont versank, kam ihm zu Bewusstsein,
dass er mit seinem Auftrag gescheitert war, denn er kam mit leeren Händen zurück. Was konnte er Narraway berichten? Gewiss, er hatte manches über Ayesha Sachari erfahren und wusste sehr viel mehr über sie als zuvor, vor allem, dass sie alles andere als dumm war. Da sich manches nicht mit seinen ursprünglichen Vermutungen deckte, würde er die Frage nach dem Grund für den Mord an Lovat vollständig neu überdenken müssen. Die Tat erschien sinnlos.
    Vor allem aber wollte er wieder bei Charlotte und den Kindern daheim sein, in der Behaglichkeit seines Hauses, sich in den vertrauten Straßen der Stadt bewegen, in der er nicht nur jede Ecke kannte, sondern auch die Sprache verstand.
    Drei Tage später legte das Schiff in Southampton an. Jetzt stand ihm nur noch die Bahnfahrt nach London bevor. Obwohl sie in Wahrheit nicht einmal zwei Stunden dauerte, schien sie sich endlos hinzuziehen.
    Um sieben Uhr abends stand er auf der Schwelle von Narraways Büro. Einerseits war er entschlossen, eine Nachricht zu hinterlassen, falls er nicht dort war, andererseits hatte er zugleich den dringenden Wunsch, ihm alles, was er zu sagen hatte, sofort mitzuteilen. Danach wollte er nach Hause gehen, um nach Lust und Laune auszuschlafen, ohne sich den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, was er am nächsten Morgen sagen oder tun sollte.
    Narraway war tatsächlich da, und so konnte er sogleich Bericht erstatten. Als Pitt die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sich Narraway abwartend in seinem Sessel zurück und sah ihn durchdringend an. Man hätte glauben können, dass er sich bereit hielt, Fragen abzuwehren, die ihm Pitt womöglich stellen wollte.
    Körperlich wie seelisch war Pitt so mitgenommen, dass er auf jede Förmlichkeit verzichtete und sich unaufgefordert seinem Vorgesetzten gegenüber setzte. Er streckte die Beine aus. Seine Füße schmerzten, und er fröstelte. Das lag nicht nur an der plötzlichen Kühle des englischen Oktobers, sondern hatte auch mit seiner Erschöpfung zu tun.
    Wortlos wartete Narraway darauf, dass er zu sprechen begann.
    »Ayesha Sachari ist eine hochintelligente, gebildete Frau aus einer christlichen Familie«, begann Pitt, »zugleich aber eine ägyptische Patriotin, der das Schicksal der Armen ihres Landes am Herzen liegt und die sich über die Ungerechtigkeit der Fremdherrschaft empört.«
    Narraway, dessen Ellbogen auf den Sessellehnen ruhten, schürzte die Lippen und legte die Fingerspitzen aneinander. »Nach dem, was Sie sagen, hatte sie politische Gründe, ins Land zu kommen. Mithin dürfen wir den Verdacht ausschließen, dass sie hier nur ihr Glück versuchen wollte«, sagte er mit einer Stimme, in der keinerlei Überraschung lag. Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht im Geringsten. »Hat sie etwa geglaubt, sie könnte über Ryerson Einfluss auf die Baumwollindustrie

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