Die Frau aus Alexandria
haben keine besonders gute Arbeit geleistet.« Er stand auf. »Sie nicht, und ich nicht.«
Narraway sah ihn an, wobei er den Kopf leicht in den Nacken legen musste. »Ich weiß, dass Edwin Lovat manchen Menschen das Leben zur Hölle gemacht hat«, sagte er gelassen. »Und dass keiner von uns beiden den Grund dafür ermittelt hat. Möglicherweise hat das nichts mit diesem Mordfall zu tun – aber es passt ebenso sehr dazu wie alles andere, was wir bisher in Erfahrung gebracht haben.«
»Nun, ich habe keine Ahnung, was dahintersteckt«, erwiderte Pitt. »Nach Aussage seiner Vorgesetzten in Alexandria war er ein
religiöser Mensch, den alle gut leiden konnten. Er hat seine Aufgaben tadelfrei erledigt und war in Miss Sachari verliebt, wenn auch nicht besonders ernsthaft. Das Verhältnis ging zu Ende, bevor er Ägypten verließ. Ganz offensichtlich hat es ihm das Herz nicht gebrochen – ihr übrigens auch nicht.«
»Niemand spricht von dieser Art Leidenschaft«, sagte Narraway mit Schärfe in der Stimme. »Sie war schön, und er lebte fern der Heimat. Seit seiner Rückkehr aus Ägypten hat er eine Frau nach der anderen unglücklich gemacht, aber bestimmt nicht aus Liebe zu ihr. Sie war nur eine von vielen.«
»Sind Sie sich da sicher?«
»Ja. Ich habe mit einigen Leuten aus dem Kreis gesprochen, in dem er verkehrte. Er ist ihr in London mehrere Male begegnet, bevor er angefangen hat, sich erneut um sie zu bemühen. Er hatte sich mit einer Frau mehr eingelassen als vorgesehen und wollte sich von ihr lösen. Am ehesten ließ sich das dadurch bewerkstelligen, dass er Miss Sachari unübersehbar den Hof machte. Zwar wollte er Jäger sein, sich aber nicht mit der Beute belasten.«
Pitt zögerte an der Tür. Um klar zu denken, war er zu müde. »Was war nur mit ihm los? Was ist zwischen seiner Abreise aus Ägypten und seiner Ankunft in England passiert?«
»Das weiß ich noch nicht«, sagte Narraway »Aber ich will die Möglichkeit nicht ausschließen, dass das mit seinem Tod zu tun haben könnte.«
»Und Miss Sachari?«
»Wie gesagt: Es gibt manches, was wir nicht wissen. Dahinter kann mehr stecken als ein einfacher Mord, der auf den ersten Blick sinnlos erscheint.«
Pitt öffnete die Tür und ließ die Hand auf dem Knauf liegen. »Gute Nacht.«
Nicht unfreundlich sagte Narraway: »Gute Nacht, Pitt.«
Als Pitt die Keppel Street erreichte, war es dunkel. Über dem Gehweg glommen die Straßenlaternen wie eine Kette unendlich gespiegelter Monde, deren Schein im Dunst immer schwächer
wurde, bis er die letzte nur noch als Andeutung sah, als gestaltlosen Schimmer.
Er schloss die Tür auf und blieb kurz in der Diele stehen. Er kostete den Augenblick aus, atmete tief die vertrauten Gerüche nach Bienenwachs und Lavendel, frischer Wäsche und den erdigen Duft der Chrysanthemen ein, die auf einem Tischchen standen. Im Wohnzimmer brannte kein Licht. Die Kinder waren wohl schon oben, und vermutlich saß Charlotte mit Gracie in der Küche. Er zog die Schuhe aus und genoss die Kühle des Linoleums, die durch die Strümpfe drang. Dann ging er zur Küche und öffnete die Tür.
Anfangs merkte Charlotte nichts von seinem Eintreten. Sie saß allein im Raum, konzentriert über eine Näharbeit gebeugt. Dabei war ihr die eine oder andere Strähne aus den Haarnadeln geglitten und schimmerte im Licht der Gaslampe. Es gab für ihn nichts Schöneres als diesen Anblick. Er war schöner als alles andere, ob das nun ein Sonnenuntergang über dem Nil sein mochte oder der Himmel voller heller Sterne, der sich über der Wüste wölbt.
»Hallo«, sagte er leise.
Sie fuhr herum, sah ihn einen Augenblick lang ungläubig an, ließ ihre Arbeit zu Boden gleiten und warf sich ihm in die Arme. Erst Minuten später, als sie Gracies Absätze in der Diele hörten, lösten sie sich voneinander. Rasch trat Charlotte mit gerötetem Gesicht an den Herd, um den Wasserkessel aufzusetzen.
»Sie sind wieder da!«, stieß Gracie überwältigt hervor. Dann dachte sie an die Würde, die sie sich schuldig war, und fuhr mit deutlich vermindertem Überschwang fort: »Ich freu mich zu seh’n, dass Se heile wieder da sind. Sicher ha’m Se Hunger?« Das wäre ein gutes Zeichen — hungrig sein war gleichbedeutend mit Normalität. Als er nicht sogleich antwortete, sah sie ihn besorgt an.
»Doch, ja«, sagte er mit einem Lächeln und setzte sich auf seinen Platz. »Aber etwas Brot mit kaltem Aufschnitt genügt. Ist hier alles, wie es sein soll?«
»Aber
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