Die Frau aus Alexandria
hat. Womit hat sie dann zu tun?«
Es war so gut wie undenkbar, dass sie die Antwort kannte. Würden die Liebe zu ihrer Heimat und zur Gerechtigkeit, sofern er es ihr sagte, sie dazu veranlassen zu sprechen, und sei es nur, um zu zeigen, dass ihr Verbrechen gerechtfertigt war? Würde ein Richter angesichts einer so ungeheuerlichen Provokation auf mildernde Umstände erkennen? Wenn er Richter wäre, würde er das gewiss tun! »Mit anderen politischen Gründen«, sagte er ausweichend. »Altes Unrecht sollte angeprangert werden, mit dem Ziel, zu Gewalttaten aufzurufen, wenn nicht gar zum Aufstand.«
»Wie die Derwische im Sudan?«, fragte sie matt.
»Warum nicht? Wenn Sie über die Sache im Licht dessen nachdenken, was Sie jetzt wissen, glauben Sie dann wirklich, dass je die Aussicht bestanden hat, in der Baumwollindustrie eine Änderung herbeizuführen, bevor sich die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse geändert haben, ganz gleich, wie Mr Ryersons Überzeugungen oder Wünsche aussehen mochten?«
Sie dachte einen Augenblick nach, bevor sie kaum hörbar einräumte: »Nein.«
»Dann ist doch sicher denkbar, dass das auch Ihrem Auftraggeber bekannt war und er in Wahrheit einen anderen Plan verfolgte?« , setzte er nach.
Sie gab keine Antwort, doch er merkte, dass sie begriffen hatte.
»Außerdem lässt es ihn völlig kalt, wenn Sie für einen Mord gehängt werden, den Sie nicht begangen haben«, fuhr er fort, »und Ryerson dasselbe Schicksal erwartet.«
Das schmerzte sie. Er sah, wie sie erstarrte und ihr das Blut aus den Wangen wich.
»Könnte es sein, dass er Lovat getötet hat?«, fragte er.
Ihr Kopf neigte sich ganz langsam und kaum merkbar, aber es war eine Zustimmung.
»Auf welche Weise?«, fragte er.
»Er ... er spielt die Rolle meines Dieners.«
Natürlich! Tariq El Abd, lautlos und nahezu unsichtbar. Dieser Mann hätte ohne die geringsten Schwierigkeiten ihre Waffe nehmen, Lovat erschießen und anschließend die Polizei anrufen können, damit sie Ryerson am Tatort fand. Er hätte das Ganze ohne weiteres einfädeln können, denn selbstverständlich hatte sie ihm ihre für Lovat bestimmten Briefe gegeben, damit er sie ihm überbrachte. Es war eine vollkommene Tarnung, denn ehe jemand einen Verdacht gegen ihn schöpfte, würde man alle möglichen anderen verdächtigen.
»Danke«, sagte er und meinte es aufrichtig. Immerhin war auf diese Weise das Geheimnis enthüllt, wenn auch das Problem damit noch nicht gelöst war. Erneut ging ihm auf, wie sehr er gehofft hatte, dass nicht sie die Täterin war. Es war beinahe, als sei ihm ein Gewicht von den Schultern genommen worden.
»Was werden Sie tun, Mr Pitt?«, fragte sie mit einer Stimme, in der jetzt doch Angst schwang.
»Ich werde nachweisen, dass man Sie benutzt hat, Miss Sachari.« Ihm war klar, dass seine Worte sie zwangsläufig an jene andere, Jahre zurückliegende Gelegenheit erinnerten, bei der man sie benutzt
und verraten hatte. »Und dass weder Sie noch Mr Ryerson des Mordes schuldig sind. Und ich werde mich bemühen, das zu tun, ohne dass es in Ägypten zu einem Blutbad kommt. Ich fürchte, das zweite Ziel hat Vorrang vor dem ersten.«
Ohne etwas zu sagen, stand sie da, reglos wie eine Ebenholzstatue, während er sich mit einem leichten Lächeln verabschiedete und an die Zellentür klopfte, um den Wärter zu rufen.
Er überlegte nur kurz, ob er allein gehen oder vorher Narraway aufsuchen und ihn ins Bild setzen sollte. Wenn Tariq El Abd die treibende Kraft hinter dem Plan war, das Massaker an die Öffentlichkeit zu bringen und in Ägpyten die Fackel des Aufruhrs zu entzünden, würde er sich bestimmt nicht tatenlos von Pitt oder sonst jemandem festnehmen lassen. Wenn er allein nach Eden Lodge ging, würde er den Mann möglicherweise nur warnen und unter Umständen die befürchtete Katastrophe damit noch beschleunigen.
Er hielt eine Droschke am Straßenrand an und nannte Narraways Büroadresse. Hoffentlich war er da.
»Was bringen Sie Neues?«, fragte Narraway, als er Pitts Gesicht sah.
»Der Unbekannte, der hinter Ayesha Sachari steckt, ist ihr Diener Tariq El Abd«, sagte er. Narraways Ausdruck zeigte ihm, dass keine weitere Erklärung nötig war.
»Wir waren mit Blindheit geschlagen!«, brach es aus Narraway heraus. Er war wütend auf sich, dass er nicht von selbst auf diese nahe liegende Lösung gekommen war. Dann sprang er auf. »Ein Dienstbote, und noch dazu ein fremdländischer, sodass wir ihn nicht einmal in unsere
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