Die Frau aus Alexandria
hinzu, als Pitt zögerte. »Da sie noch nicht schuldig gesprochen ist, hat sie nach wie vor bestimmte Rechte. Noch hält die ägyptische Botschaft ihre schützende Hand über sie. Bis morgen Nachmittag haben Sie Ihre Erlaubnis.«
Pitt gab sich damit zufrieden, weil er keine Wahl hatte.
Am folgenden Tag suchte er Narraway um die Mittagszeit auf. Die wenigen Stunden, in denen er Schlaf gefunden hatte, waren mit Träumen von Gewalt und nahezu unerträglicher Spannung angefüllt gewesen. Fast zwei Stunden musste er allein im Empfangszimmer warten, bis Narraway mit einem Blatt Papier in einem Umschlag zurückkehrte und es ihm ohne nähere Erklärung übergab.
»Danke.« Pitt nahm es. Er sah auf die wenigen Zeilen und war beeindruckt, dachte aber nicht im Traum daran, Narraway das merken zu lassen. »Ich gehe sofort zu ihr.«
»Tun Sie das, bevor es sich die Leute anders überlegen.« Dann fügte er hinzu: »Noch etwas, Pitt – seien Sie vorsichtig! Der Einsatz, um den hier gespielt wird, ist sehr hoch und heißt vielleicht sogar Krieg. Mit Sicherheit haben die Leute, die dahinter stecken, keine Bedenken, einen Polizisten mehr oder weniger aus dem Weg zu räumen.«
Obwohl ihm die Situation klar war, blieben diese Worte nicht ohne Eindruck auf ihn. Schroff sagte er: »Das weiß ich selbst«, wandte sich um und ging. Er warf Narraway einen kurzen Abschiedsgruß über die Schulter zu, damit dieser nichts vom Sturm der Gefühle merkte, die in ihm tobten. Gefahren waren ihm vertraut. Wer wie er Streifendienst in Londons finstersten Gässchen gemacht hatte, hatte zwangsläufig solche Erfahrungen gemacht. Diese Sache aber war von einer anderen Größenordnung, die Verschwörung, um die es dabei ging, war von einem Ausmaß, mit
dem er noch nie zu tun gehabt hatte. Hier handelte es sich nicht um die Pläne eines einzelnen Menschen, sondern es ging um das Schicksal eines ganzen Landes, die Möglichkeit sinnloser Zerstörung und tausendfachen Todes.
Er nahm die erste Droschke, die vorüberkam, und forderte den Kutscher auf, ihn so rasch wie möglich nach Newgate zu bringen. Dort suchte er sofort den zuständigen Wärter auf und zeigte ihm die Vollmacht, die ihm Narraway gegeben hatte. Der Mann las sie zweimal bedächtig durch und beriet sich dann mit einem Vorgesetzten. Endlich, als Pitt schon im Begriff stand zu explodieren, führte er ihn zur Zelle der Ägypterin und schloss auf.
Pitt trat ein und hörte, wie die Stahltür hinter ihm ins Schloss fiel. Der Anblick der Frau, der er sich gegenübersah, machte ihn sprachlos. Er hatte sich aus seinen Vorstellungen und aus dem, was er in Alexandria gesehen hatte, ein Bild von Ayesha Sachari gemacht. Vielleicht hatten alte Berichte über die griechisch beeinflusste Stadt seine Vorstellungen von ihr geprägt, ohne dass ihm das zu Bewusstsein gekommen war. So hatte er vor seinem inneren Auge eine Frau von höchstens durchschnittlicher Größe mit weich gerundetem Leib, olivfarbener Haut und glänzend schwarzem Haar gesehen.
In Wahrheit war sie ziemlich groß, nur eine knappe Handbreit kleiner als er, feingliedrig und schlank. Sie trug ein helles Seidengewand, ähnlich denen, die er an Frauen in Alexandria gesehen hatte, doch war es anmutiger geschnitten. Das Ungewöhnlichste aber waren ihre nahezu schwarze Haut und das Haar, das ihr glatt um den vollkommen geformten Kopf lag. Ihre Züge waren mehr als schön, sie wirkte herrlich wie ein Kunstwerk, doch ließ die Ausstrahlung, die von ihr ausging, keinen Zweifel daran, dass es sich um eine lebende, atmende Frau handelte. Sie war ganz offensichtlich keine der mediterranen Ägypterinnen, sondern stammte, weit tiefer in die Vergangenheit reichend, aus dem alten koptischen Afrika.
»Wer sind Sie?« Ihre leise, ein wenig belegte Stimme holte ihn unvermittelt in die Gegenwart zurück. Er hörte kaum einen Akzent. Ihm fiel lediglich auf, dass sie die Worte ein wenig deutlicher
aussprach als die meisten Engländerinnen – etwa so wie Großtante Vespasia.
»Entschuldigung, Miss Sachari«, sagte er automatisch. »Ich heiße Thomas Pitt und muss unbedingt mit Ihnen sprechen, bevor das Gericht am Montag wieder zusammentritt. Bestimmte Dinge, von denen Sie möglicherweise nichts wissen, sind ans Licht gekommen.«
»Sie können mir sagen, was Sie wollen«, entgegnete sie ihm gleichmütig. »Außer dem, was ich bereits ausgesagt habe, habe ich Ihnen nichts zu sagen. Da ich es nicht beweisen kann, ist es wohl wenig sinnvoll, es zu
Weitere Kostenlose Bücher