Die Frau aus Alexandria
gut geht oder wenn er was Verrücktes angestellt hat. Da kann er lange such’n, bis er wieder so jemand wie Martin findet. Der is ... der is richtig ... anhänglich.« Sie sah Gracie mit leuchtenden, zugleich aber auch furchtsamen Augen an. Unübersehbar hoffte sie, verstanden zu werden, fest
überzeugt, dass etwas so Kostbares wie Anhänglichkeit und uneingeschränkte Treue unbedingt auf Gegenseitigkeit beruhen müsse. Gewiss verdiente ihr Bruder ein besseres Los, als dass ihn jemand verstieß, nur weil er die Macht dazu hatte!
Gracie hielt nicht so viel vom Anstand der Arbeitgeber wie Tilda anscheinend. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr als Dienstmädchen im Hause Pitt tätig, hatte sie zwar selbst keine schlechten Erfahrungen gemacht, aber von anderen Dienstboten so viele üble Geschichten gehört, dass sie Tildas treuherzige Einstellung nicht teilen konnte.
»Has du mit Mr Garrick selber gesproch’n?«, fragte sie.
Tilda war entsetzt. »Natürlich nich! Wie könnte ich? Du bis ja ganz schön dreist!« Sie war so verblüfft, dass sich ihre Stimme fast überschlug. »Es war schlimm genug, den Butler zu frag’n, un der hat mich angeseh’n, wie wenn ich kein Recht dazu hätt’. Eigentlich wollte er mich gleich wegschick’n, bis er endlich geglaubt hat, dass Martin mein Bruder is. Bei Verwandten gehört sich das auch so.«
»Mach dir keine Sorgen«, tröstete Gracie die Freundin. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Wenn Pitt durch die Arbeit beim Sicherheitsdienst zu stark in Anspruch genommen wurde, gab es immer noch Tellman. Ihm würde sie den Fall vortragen. Unter Pitt in der Bow Street Wachtmeister, hatte man ihn – nach dessen ungerechtfertigter Entlassung aus dem Polizeidienst – zum Inspektor befördert, und so war er jetzt selbst Vorgesetzter. Er hatte schon seit einer ganzen Weile ein Auge auf Gracie geworfen, auch wenn er sich das selbst erst ganz allmählich und mit großem Zögern eingestanden hatte. Sicher konnte er die nötigen Nachforschungen anstellen und Tilda helfen. Gracie war fest überzeugt, dass dieser Fall die Polizei interessieren musste. »Ich lass das für dich erledig’n«, sagte sie und lächelte Tilda aufmunternd zu. »Ich kenn einen, der das kann. Der geht der Sache bestimmt auf’n Grund.«
Endlich wurde Tilda etwas ruhiger und erwiderte sogar Gracies Lächeln. »Meins du wirklich? Ich hatte mir gleich gedacht, wenn überhaupt einer was machen könnte, dann du. Ich weiß gar nich, was ich sag’n soll, nur dass ich dir schrecklich dankbar bin.«
Gracie fühlte sich von diesem Überschwang peinlich berührt. Hoffentlich hatte sie nicht zu viel versprochen. Zwar würde ihr Tellman diesen Wunsch selbstverständlich erfüllen, doch was war, wenn die Lösung so aussah, dass sich Tilda darüber nicht freuen konnte? »Noch hab ich nix gemacht!«, erwiderte sie, senkte den Blick und trank ihren Tee aus. »Aber wir krieg’n das schon hin. Jetz erzähl mal am besten alles über dein’ Bruder – was er bei seiner Arbeit macht un so.« Zwar hatte sie weder Stift noch Papier bei sich, verfügte aber, da sie erst vor kurzer Zeit Lesen und Schreiben gelernt hatte, über ein geschultes Gedächtnis, denn bis dahin hatte sie sich alles auswendig merken müssen.
Tilda, die aus demselben Grund alle Einzelheiten genauestens wusste, begann ihre Schilderung. Als Gracie genug zu wissen glaubte, traten sie wieder auf die belebte Straße hinaus und verabschiedeten sich. Während sich Tilda, die den Kopf ein wenig höher trug als zuvor und nicht mehr ganz so zögerlich ging, daran machte, ihre Besorgungen zu erledigen, kehrte Gracie in die Keppel Street zurück, um Charlotte zu fragen, ob sie den Abend frei haben konnte. Sie wollte Tellman aufsuchen.
Die Bitte wurde ihr bereitwillig gewährt.
Zwar war Tellman nicht auf der Wache in der Bow Street, aber schon beim nächsten Versuch fand sie ihn zwei Nebenstraßen weiter in einer Gaststätte. Suchend sah sie sich vom Eingang aus um. Die Sägespäne unter ihren Füßen waren von den vielen Gästen breit getreten, in der Luft hing der Geruch nach Bier, und um sich herum hörte sie Gläserklirren und die Stimmen von Männern, die sich unterhielten.
Erst nach einer Weile entdeckte sie Tellman, der mit gesenktem Kopf in der hintersten Ecke saß und trübsinnig in sein Bierglas stierte. Ihm gegenüber saß ein Streifenbeamter, der ihn respektvoll ansah. Nach wie vor bereitete die neue Position Tellman Unbehagen, denn im Unterschied zu vielen
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